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Mistelzeit

Alfred Gulden

(aus: DER SAARGAU. Reise in die nächste Fremde. List Verlag München, 1984)

Ein Sonntagmorgen Ende November. Der Frühnebel hat sich gelegt. Blauer Himmel und eine Wintersonne. In die Hügelwellen gestreut kleine Straßendörfer: Chateau rouge, Bibiche, Lacroix, Colmen, Montenach... Wir fahren durch Lothringen. An den langen, schnurgeraden Straßen, die sich der Landschaft, Hügeln und Tälern anpassen, stehen die Obstbäume jetzt ohne Laub, aber noch viele voller Obst. Vor allem Äpfel, deren Rot in der Sonne leuchtet. Aber nicht nur die Äpfel bekommen jetzt alles Licht und kommen so zum Vorschein, auch Büsche, kugelrund die einen, andere ausgefächert wie zerzauste Besen, sitzen sie auf den Ästen fest, haben silbrig glänzende Beeren, und, im Gegenlicht vor allem, verändern sie die Form der Baumgerippe:

Immergrün,

Wintergrün,

Kreuzholz,

Alpranke,

Alfranke,

Vogelkraut,

Hexenkraut,

Hexenbesen,

Donnerbesen

oder einfach auch:

Misteln.

Vor dem Ortseingang des Städtchens Bouzonville reißt das scharfe Schnarren einer Motorsäge aus dem sonntäglichen Träumen. Von einem der Apfelbäume an der Straße kommt das Geräusch. Unter dem Apfelbaum geparkt steht ein Lastwagen, auf dem Dach des Führerhauses ein Mann in blauem Arbeitskittel. Mit der Motorsäge schneidet er Mistelbüsche ab und wirft sie auf die Ladefläche des Lastwagens. Ich halte an, gehe hinüber und frage um einen Mistelbusch.

Ich werde zurückgewiesen: die seien zum Verkauf für den Markt.

Oh, Plinius, du hättest Augen gemacht! In deiner Beschreibung des Mistelkultes bei den Kelten schwärmst du:

Nichts haben ihre Priester, die Druiden, was ihnen heiliger ist als die Mistel und der Baum, auf dem sie wächst. Mit großer Feierlichkeit wird die Mistel in der sechsten Nacht nach Neumond vom Baum geholt. Nachdem sie unter dem Baum die gehörigen Opfer und Mahlzeiten veranstaltet haben, führen die Priester zwei weiße Stiere herbei und bekränzen zunächst deren Hörner. Ein Priester mit weißem Kleid besteigt dann den Baum und schneidet mit goldener Sichel die Mistel ab. In einem weißen Mantel wird sie aufgefangen, dass sie nicht die sündige Erde berührt. Dann schlachten die Priester die Opfertiere und bitten um die Gunst der Götter.

Hätte dieser Nachkomme der Gallier auf dem Lastwagendach mich wenigstens mit »Belenus, Teutates und Belisama!« abgewiesen!

Miraculix Fluch nicht nur im Kopf, hupe ich kurz hinter dem Dörfchen Lacroix, als eine rostrote Katze es gerade noch vor dem Auto über die Straße und in die Wiesen schafft. Aufgeschreckt flattern aus den Bäumen am Wegrand die Vögel hoch. Ob das Misteldrosseln sind? Und da fällt mir ein dreiteiliger Kupferstich ein.

Im linken Teil des Tryptichons sitzt vorn auf einem knorrigen Ast eine schwarze Drossel und pickt mit spitzem Schnabel nach Mistelbeeren. Dahinter zieht sich eine Gebirgslandschaft ins Grau. Die Mistelbeeren strahlen leuchtend weiß aus dem Schwarz und Grau. Im mittleren Bild ist über einem offenen Feuer ein großer schwarzer Kessel aufgehängt. Daneben auf einem Schemel liegen Mistelzweige mit Beeren. Im rechten Bild, auf einem Ast mit Mistelzweigen, den Schnabel offen, die Flügel hoch, als wolle sie eine Beere picken und wegfliegen, kauert wieder die Drossel. Über sie, groß und griffbereit, ragt von rechts in die Bildmitte eine Hand. Unter dem Kupferstich der Spruch des Plautus:

turdus ipse sibi cacat malum (Die Drossel kackt sich selbst ihr Unglück).

Ein Bilderrätsel?

Der Vogelleim aus Mistelbeeren ist die Auflösung. Die Drossel pickt die Mistelbeere, frisst sie, verdaut sie nicht, scheidet sie aus auf einen Ast, es wachsen Misteln dort, aus denen macht der Mensch dann Vogelleim, die Drossel zu fangen. Sie geht sich also selbst »auf den Leim «.

Ob die rostrote Katze von vorhin Vorzeichen für Pech oder Glück gewesen ist? Schwarze Katzen, die einem über den Weg laufen, sollen Pech bringen, aber rostrote? Auf alle Fälle hatte die rostrote Katze selbst Glück.

Aus diesen Gedanken läuten mich die Kirchenglocken von Waldwisse, einem kleinen Grenzort.

Wie lange es gedauert haben mag, bis die Missionare dieser Gegend die heidnischen Bräuche ausgetrieben, sie durch christliche ersetzt hatten? Bräuche, die nicht nur das Besondere: Geburt und Tod, sondern auch den Alltag, das tagtägliche Leben mitbestimmen. Zum Beispiel aus Misteln einen Abwehrtrank zu brauen gegen böse Geister.

»Solcher fantasei und aberglauben seind vil bei uns eingerissen. Dan vil meinen noch/ es haben die Eichen Misteln etwas krafft und gewalt für böse gespenst/ henckens auch zum theil den jungen kindern an die hälss/ der meinung/ es soll denselben kindern kein zauberei oder gespenst schaden«, schreibt Hierymus Bock in seinem »Kreutterbuch« Mitte des sechzehnten Jahrhunderts.

Besonders gegen das dämonische Alpdrücken, gegen die Mahr, die sich nachts auf die Brust des Schläfers setzt und ihn quält, soll die Mistel helfen. Daher auch Alpranke. Misteln in das Haus gehängt oder in die Ställe, das schützt vor Hexen. Überall böser Zauber. Dagegen die Mistel. Sogar gegen Flöhe. Denn Flöhe galten als etwas angehextes.

Ob der Gallier, blauer Drillich, Motorsäge, der die Misteln von den Bäumen schneidet, von all dem eine Ahnung hat? Oder die beiden Alten in ihren Sonntagsanzügen, die soeben unterhalb der Kirche aus dem Cafe kommen, und sich auf den Heimweg machen, ob sie noch etwas davon wissen, oder schon gehört haben... früher... Die schon eher. Denn als sie jung waren, da gab es auf dem Land (und gibt es nicht auch heute noch, nur ungern zugegeben, das Gesundbeten und geheime Tränklein für das Vieh?...) also damals, in den zwanziger Jahren, soll es auf dem Land Leute gegeben haben, die ein Kreuz aus Mistelholz, eingenäht als Amulett, bei sich trugen zur Abwehr der bösen Geister. Dass derlei Kreuze im »mistlin paternoster«, im Mistelrosenkranz, im fünfzehnten Jahrhundert schon massenhaft hergestellt wurden und Handelsartikel waren, werden sie nicht gewusst haben.

Weder die, noch die beiden Alten, die jetzt in ihren Häusern verschwunden sind, noch der, der im blauen Arbeitsanzug am Sonntagvormittag auf dem Wagendach seines Lastwagens steht und Misteln für den Markt absägt, denke ich mir, aber so hat die Kirche das vom heidnischen Brauchtum, was sie nicht abschaffen konnte, sich einverleibt, oder war es umgekehrt, dass die Leute sich von der Kirche genommen haben, was sie brauchten, zusammenbrachten, was ihnen passte: Mistelzweig und Rosenkranzkreuz, dem Holz der heiligen Pflanze der Druiden die Form des christlichen Kreuzes gaben, damit so Kraft zu Kraft käme, doppelte Abwehr gegen alles Böse...

Aber ob die Leute soweit gedacht haben, sage ich laut und mache vor der Kirche halt, parke

Holz liegt da gestapelt. Umbau. Altes Holz, zersägt zum Teil. Kirchenbänke könnten das gewesen sein, das hier Teil einer Kanzel.

Und ich male mir eine Szene aus:

Wie der Pfarrer bei der Vorbereitung einer Hochzeitspredigt aus dem Fenster seines Studierzimmers über die Wiesen und die Obstbäume schaut, und es fällt ihm nichts ein, es fällt ihm nichts zur Hochzeitspredigt ein, außer den alten schon so häufig gebrauchten Bildern und Gleichnissen. Er will aber neues! Nicht immer dasselbe. Und wie er da steht und schaut und in den Novembertag träumt... Und wie plötzlich ein Ruck durch ihn geht. Er hat es! Da, da draußen vor seinem Fenster! Da, in den Bäumen - die Misteln! Nur hinschauen muss man, dann hat man es! Die Misteln! Immergrün, immergrün wie die Liebe, die keinen Winter kennt! Ein guter Anfang für eine Hochzeitspredigt, denkt er bei sich. Immergrün wie die Liebe.

Und wie die Bilder ihn dann überfallen.

Und der Pfarrer zu seinem Schreibtisch hüpft, er hüpft, so froh ist er, und außerdem sieht ihn keiner, denkt er. Und wie er sich jetzt hinsetzt und zu schreiben beginnt. Wie seine Wangen vor Eifer glühen: Endlich ein Bild gefunden zu haben, ein Gleichnis, das viel hergibt. Die Mistel, Baum auf dem Baum... einer trage des anderen Last, einer für den anderen da, einer lebt vom anderen... Ein schönes, mitreißendes Bild! Ein Bild, das hier jeder kennt, jeder hier schon einmal gesehen hat, gerade jetzt, wo der Winter kommt und die Misteln in den Bäumen sichtbar werden, sie einziger Baumschmuck sind! Baum auf dem Baum, trage des anderen Last, zusammenleben, aufeinander angewiesen sein! Und nicht nur hier - weit verbreitet die Mistel, und wielange es sie schon gibt! Seit Menschengedenken schon. Zauberkraft... gegen Impotenz und für viele Kinder... Und wie der Pfarrer jetzt stockt, nachdenklich wird, Zauberkraft, alter Zauber, heidnisches Symbol, ob das in eine christliche Predigt passt? Und außerdem, fällt ihm jetzt ein, sagt man doch auch, dass die Mistel eine Krankheit ist, die den Baum befällt, ein Schädling, Schmarotzer, der dem Baum den Saft, das Mark aussaugt. Und wie der Pfarrer sich jetzt den Kopf kratzt: und wer wäre in dem Gleichnis was gewesen, der Bräutigam, die Braut? Und wie der Pfarrer dann hastig aufsteht, den Kopf schüttelnd zum Fenster geht und es mit einer heftigen Bewegung schliesst (nicht einmal der Natur kann man trauen).

Dann lasse ich den Pfarrer, ehe er wieder über seiner Hochzeitspredigt zu grübeln beginnt, zum Mittagstisch gehen, an dem die beiden Alten sicherlich schon sitzen, und wahrscheinlich auch schon der Gallier im blauen Arbeitskittel. Auch mir knurrt der Magen, wenn ich daran denke, und ich fahre los, eine gute Auberge zu finden.

Auf der Rückfahrt - das Hähnchen in Wein ist ausgezeichnet gewesen, der Riesling dazu ebenfalls - fällt mir ein: Soviel an die Mistel gedacht, soviel von ihr heute gesehen und noch immer keine in der Hand!

Dabei, wenn ich aus dem Autofenster schaue, rechts und links der schnurgeraden Allee die Obstbäume sind voll davon. Ich parke den Wagen am Straßenrand, steige aus und versuche, einen Mistelbusch so zu erreichen. Vergeblich. Ja, der Gallier heute vormittag auf dem Autodach, der hatte es gewusst. Ich muss also auf den Baum hinauf. Beim zweiten Versuch gelingt es mir. Ich stehe in einem Apfelbaum. Misteln genug. Ich ziehe mein Schweizermesser, da fällt mir ein, dass ich von einem alten Aberglauben in der Gegend um Rennes gelesen habe, wonach die Mistel Unglück bringe, wenn sie mit einem scharfen Werkzeug abgeschnitten, aber Glück, wenn sie ausgerissen worden sei. Ich stecke also das Messer wieder ein und breche die Mistelzweige. Mit einem hellen Knacken brechen sie leicht. Und jetzt? Soll ich sie auf die »sündige« Erde werfen? Aber ohne weißen Druidenmantel, in den hinein ich sie werfen müsste, weiß ich nicht, was tun. Kurz entschlossen lasse ich die Mistelzweige fallen, will nach den nächsten greifen, da rutsche ich mit dem Fuß ab, kann mich aber eben noch mit der einen Hand um einen Ast klammern. Wie gut, dass ich die Mistel gebrochen, nicht geschnitten habe! So habe ich eine Hand frei gehabt! Wäre ich gefallen, ob mir die Mistel da genutzt hätte? Da die Mistel hoch in der Luft auf den Zweigen der Bäume wurzelt, und so nicht die Erde berührt, glaubte man, könne auch der Fallsüchtige nicht zu Boden stürzen, solange er ein Stück Mistelzweig in der Tasche trüge.

Aber nicht nur gegen die Fallsucht, auch als natürliche Medizin gegen ungezählte Krankheiten soll sie helfen.

Aus dem Kreutterbuch des Hochgelehrten und weltberühmten Herrn Petri Andreae Matthioli, Frankfurt am Main 1586:

»Der Eychen Mistel ist zu vielen gut/ fürnemlich aber dienen die ersten Zweig wol in fluxu muliebri, und den schadhafften Nieren. Etliche nemmen die Eychen Mistel/ So die Erde nicht berührt haben/ ziehen den Leim darauss/ sieden den mit Rauten in Wasser/ gebens zu trincken viertzig Tag nacheinander/ der Krancke muß die Diaet halten und schwitzen/ in allermassen wie man mit dem Frantzosenholtz pflegt zu thun/ sol ein bewerte und gewaltige hülff seyn wider die fallende sucht/ welchs nicht übel zu glauben ist/ dann die Mistel ist so hoch gewürdigt/ dass ihn die alten Heyden omnia sanantem, das ist/ heil alle schäden/ genennt haben...«

Bis heute ist die Mistel Heilmittel. Misteltropfen gegen Altersbeschwerden, Mistelpräparate gegen zu hohen Blutdruck sind auf dem Markt. Sogar gegen Krebserkrankungen wird sie angewandt.

Am Nachmittag komme ich nach Saarlouis, meinen Ausgangspunkt, zurück. Auf dem Großen Markt sind Verkaufsstände aufgebaut mit Krippen, Adventskränzen, Tannenreisern, Christbaumschmuck. Es riecht nach Glühwein und Waffeln.

Auf seinem Lastwagen, im blauen Arbeitskittel, diesmal nicht die Motorsäge in der Hand, sondern eine Geldtasche, steht der Gallier vom Vormittag und verkauft Misteln. Sie gehen gut weg. Dass die Misteln auf den Weihnachtsmärkten von den Engländern auf dem Kontinent eingeführt wurden, kümmert ihn sicher nicht. Auch nicht, dass es eine englische Sitte ist, an Weihnachten Mistelbüsche an die Zimmerdecke zu hängen, um gegen Blitz, Feuer und Krankheit gefeit zu sein und einen Glücksbringer zu haben. Der Gallier strahlt. Hat er doch sein Glück mit der Mistel heute schon gemacht...

 

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