Uttenreuth, den 11. 1. 76
Lieber Herr Gulden,
als ich über die Weihnachtstage bei meinen Eltern in Saarlouis war, habe ich Ihren Band "Lou mol lo lo laida" bei Gruchalla im Schaufenster gesehen, sofort gekauft und zum Teil noch im Stehen verschlungen. Ich habe auch zuhause daraus vorgelesen, und mein Onkel hat sich das Buch auch gleich gekauft. Es liegt in meiner Biographie begründet, warum ich stärker als ein beliebiger anderer Saarlouiser von Ihrem Buch fasziniert bin. Ich habe nämlich Sprachwissenschaft und Orientalistik studiert - zur Zeit bin ich Privatdozent am Orientalischen Seminar der Universität Erlangen - und ich habe seit 1964, also seit mehr als 10 Jahren, als Linguist und Dialektologe über moderne orientalische Sprachen gearbeitet. Während dieser Jahre, die ich zum Teil in Deutschland und zum Teil im Vorderen Orient zubrachte, habe ich eine Reihe von aramäischen, arabischen und kurdischen Dialekten wissenschaftlich untersucht und beschrieben, dazu auch volkskundliche Texte in den betreffenden Dialekten auf Tonband aufgenommen und in phonetischer Umschrift veröffentlicht. Ich habe auf diese Weise eine ganze Reihe von lokalen Sprachen, von denen ich einige sogar selbst erst entdeckt habe, zwar nicht vor dem Aussterben gerettet, aber doch für die Nachwelt konserviert. Als jemand, für den die gesprochene Sprache, gerade in der nicht-Standard-Form, etwas Faszinierendes und ungeheuer Schönes ist, habe ich immer bedauert, für meine eigene Muttersprache, den Saarlouiser Dialekt, nichts getan zu haben. Deshalb bin ich über Ihr Buch so froh. Es stellt zwar - ich weiß nicht, ob Ihnen das selber bewußt ist - eine Art Abgesang, fast schon einen Nachruf auf den Rodener Dialekt dar, bringt aber zugleich dessen Wesen viel genuiner zum Ausdruck als die älteren Veröffentlichungen (ich denke z. B. an die Gedichte von Dr. Fox), die sich in der <30> Nachahmung hochsprachlicher Stilmuster erschöpfen. Einige Ihrer Gedichte haben, bei aller mundartlichen Authentizität, eine formale und inhaltliche Vollendung, die den älteren Reimereien völlig abgeht und aus ihnen echte literarische Texte - im anspruchsvollen Sinne des Wortes - macht.
Ich schreibe Ihnen einmal, um Ihnen für dieses Buch zu danken, zum anderen aber auch, um Sie auf die Unzulänglichkeit der von Ihnen gewählten Schreibweise hinzuweisen. Es war sicher der Wunsch des Verlags und vielleicht auch Ihre eigene Absicht, eine Schreibweise zu wählen, die sich an das gewohnte hochdeutsche Schriftbild anlehnt; daraus folgt aber nicht notwendigerweise, daß man die Laute der Mundart in so inkonsequenter und irreführender Weise in Schrift umsetzt, wie Sie das getan haben. Ich möchte Ihnen nur einige wenige Beispiele dazu geben:
Im Vergleich zum Hochdeutschen hat die Rodener Mundart einen Öffnungsgrad mehr bei den Kurzvokalen. Wir haben nämlich:
-
kurzes i [I] wie in: vill, sicha
-
kurzes geschlossenes e [e] wie in: vareckt, geft, esa, ren, kenna
-
kurzes offenes e/ä [ ] wie in: päffa, en ("Ende"), flämm, ebbes
Das gleiche gilt für die hinteren Kurzvokale. Wir haben:
- kurzes u [u] wie in: gut, Schduff
-
kurzes geschlossenes o [o] wie in: boden, ronna, holen, dau woldschd
- kurzes offenes o [c] wie in: doch, kopp, dau hodschd
Das Hochdeutsche hat demgegenüber nur zwei Öffnungsgrade:
kurzes i, u und kurzes, stets offenes e, o, d.h. die geschlossenen kurzen Vokale [e, o] fehlen.
Es wäre nun leicht gewesen, diese verschiedenen Vokale stets durch den gleichen Buchstaben zu bezeichnen. Das haben Sie leider nicht getan, wie schon die obigen Beispiele (in Ihrer Originalorthographie) zeigen. So verwenden Sie das Zeichen e unterschiedslos für den geschlossenen und den offenen Vokal, letzteren schreiben Sie allerdings manchmal auch ä. Bei den hinteren Vokalen unterscheiden Sie überhaupt nicht zwischen geschlossenem und offenem o und verwenden für beides das Zeichen o. Das gleiche bei den langen Vokalen: Sie unterscheiden nicht zwischen langem geschlossenem o [o:] wie in geloo und langem offenem o [c:] wie in däa lo. Auch eine eindeutige Unterscheidung von kurzen und langen Vokalen, die für den Dialekt sehr wichtig ist, ist aufgrund Ihrer Schreibweise nicht möglich. Sie werden mir nun vielleicht das Argument entgegenhalten, daß ohnehin keiner, der den Dialekt nicht kennt, die Texte richtig lesen kann. Bitte bedenken Sie aber die folgenden Punkte:
1. Eine Schreibweise, die phonemisch richtig ist, d. h. die sämtliche Laute des Dialekts unterscheidet und eindeutig bezeichnet, braucht kein Schriftbild zu ergeben, das für den Leser ungewohnter wirkt als das jetzige. Sie braucht auch keine weiteren Buchstaben oder Zusatzzeichen - vielleicht mit der einzigen Ausnahme eines accent grave.
2. Eine solche phonemische Umschrift zu entwerfen, d. h. eindeutige und leicht zu handhabende Regeln für die Schreibung festzulegen, ist für den Fachmann - und als solchen darf ich mich in aller Bescheidenheit wohl bezeichnen - eine Angelegenheit von ein bis zwei Stunden.
3. Sie müssen mit zwei Gruppen von Lesern rechnen: Leuten aus dem Kreis Saarlouis, die diese Texte in ihrer eigenen Muttersprache lesen wollen, und Leuten aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, ja potentiell aus der ganzen Welt, die gerne wissen möchten, wie man in Saarlouis-Roden <32> redet. Für beide Gruppen ist eine phonemische Schreibweise von großem Vorteil. Für die Rodener, weil sie ihnen einen Einblick in die Regelhaftigkeit des eigenen Dialekts vermittelt, was erfahrungsgemäß jeden Dialektsprecher tief beeindruckt, denn plötzlich sieht er den Dialekt nicht mehr als etwas Minderwertiges und Regelloses (wie man ihm so gerne einredet), sondern als etwas, das eine von der Hochsprache abweichende aber gleichwertige Struktur hat. (Im Falle des Rodener Dialekts ist z. B. das Vokalsystem differenzierter, symmetrischer und mithin vollkommener als im Hochdeutschen.) Für die Interessenten aus der weiten Welt ist eine phonemische Schreibweise noch viel wichtiger, weil nur sie es ihnen überhaupt ermöglicht, zu einer halbwegs richtigen Aussprache zu kommen. Da es sich bei dieser Gruppe um Leute handelt, die sich für das Phänomen Sprache interessieren und vielleicht ein paar einschlägige Kenntnisse aufweisen, könnten sie einen phonemisch geschriebenen Text mithilfe einer kurzen Einführung in die Schreibweise richtig lesen.
Es ließe sich noch viel mehr sagen, doch diese wenigen Ausführungen haben Ihnen sicher schon gezeigt, worauf ich hinaus will. Wenn Sie an der Frage, wie man Mundart schreiben soll, überhaupt interessiert sind, würde ich mich gerne weiter mit Ihnen darüber unterhalten. Ich würde Ihnen auch gerne mit Rat und Tat behilflich sein, wenn Sie (vielleicht für eine zweite Auflage) die Schreibweise revidieren wollen.
Ich hoffe, Sie haben meine Ausführungen nicht als Kritik aufgefaßt, sondern nur als Zeichen lebhaften Interesses und als Wunsch, einen kleinen Beitrag zu Ihrer Arbeit zu leisten. Oder, mit den Worten meiner Mutter: et es jo net, daß ma schwätzt, et es jo nua, daß ma saat.
Herzliche Grüße
Ihr Otto Jastrow