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Die Leidinger Hochzeit
 

KAPITEL II, Teil 2

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Zu einem Mirabelle eingeladen hatte er Erich damals. Und Erich war gekommen. Seither ist der Mirabelle ihnen Friedenszeichen. Wink zur Versöhnung. Hatte Erich ihn schon eingeladen dazu in die Stadt. Jeanne. Wie sie vor dem Altar neben Erich steht. Über ihren Kopf die Linie verlängert, die andere Jeanne. Groß auf die Wand hinter den Altar gemalt. Das Schwert in der Hand. Ob Erich sich da nicht täuscht? Diese Hochzeit. Er redet ihm nicht hinein. Taube Ohren. Er sehe in Jeanne verkörpert, was er hier suche, weshalb er nachhaus gekommen sei, hat ihm Erich gesagt. Seine Wünsche, seine Vorstellungen. Und Jeannes Vorstellungen und Wünsche? Aber, denkt Philipp Hautz, darüber werden die beiden sich ausgesprochen haben. Dennoch. Ein Unbehagen ist ihm geblieben. Nicht, daß er Jeanne nicht mag. Im Gegenteil. Er kennt sie so lange. Aber Erich, immer weg, nur in den Ferien da. Erich ... bricht er diese Gedanken ab, ob Erich sich nur nicht verrechnet hat.
28 hat sie gezählt. Aber Jeannes Dickkopf.
Herr erbarme dich,
Herr erbarme dich,
So stur ist sie ihrer Mutter gegenüber noch nie gewesen.
Bis heute nicht.
Christus erbarme dich,
Christus erbarme dich,
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Obwohl, gibt Marie zu, auch sie immer ihren eigenen Kopf gehabt, hat durchsetzen wollen.
Herr erbarme dich,
Herr erbarme dich.

Dir wünsch ich eine Tochter wie dich, hört sie Thérèse, daß du das spürst, einmal spürst, wie das ist. Wenn sie wieder einmal Streit gehabt hatten. Dünn, diese Hochzeit. Die Liste der Hochzeitsgäste ist leicht zu behalten, die Jeanne ihr gezeigt hat. Und Marie geht sie noch einmal durch. 28 Personen. Auf ihrer Seite die Beaumonts, die Fontaines. In ihrer Reihe, neben ihr, Jacques. Am liebsten hätte er sich heute morgen die schwarze Krawatte gebunden. Wie für die Beerdigung. Und seine Augen! Als sei Jeanne gestorben. Nicht Hochzeit. Aber mit Jacques hat Jeanne immer leichtes Spiel gehabt. Vernarrt ist er in sie. Seine Tochter. Nicht einmal ausschimpfen hat er sie je können. Und auch, als sie ihm die Liste gezeigt hat, hat er nur schon gut, schon gut gesagt. Immer war alles, was Jeanne machte, schon gut, schon gut gewesen. Wie oft hatte sie sich geärgert, wenn nicht alles, was Jeanne machte, schon gut gewesen war. Jeanne, Jacques' wunder Punkt. Da durfte, da darf niemand dran rühren.
Was Robert gefühlt hat, wenn er vom Vater die Prügel bekam, die seine Schwester hätte bekommen müssen, hat sie sich oft gefragt. Daß Robert Jeanne haßt, wundert sie nicht. Obwohl, seit

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Jeanne in der nahen Kleinstadt Arbeit hat, ist kein Streit mehr zwischen den beiden. Aber als Kinder! Spielen kann der! So gut hat sie die Orgel noch nie gehört.
Nun bitten wir den heiligen Geist
um den rechten Glauben allermeist,
daß er uns behüte an unserm Ende,
wenn wir heimfahrn aus diesem Elende
Die drei auf der Empore nicht zu vergessen. Später. Sie hat ihre Reihenfolge. Nach Jacques Robert. Neben Robert Leonie, seine Frau. Und Marie verzieht leicht den Mund. Ein bißchen mehr könnte Leonie doch auf sich halten. Es ist ihre Sache, ihre und Roberts. Aber heute ist Hochzeit. Der Mantel. Das Kleid schaut unten heraus. Der Kragen halb umgeschlagen. Und die Haare, als habe der Wind sie gekämmt! Daß Robert - aber die Frau müßte dafür ein Auge haben. Und einen Spiegel. Wie sie sich herrichtet. Um Gottes Willen, lieber würde sie sich die Zunge abbeißen. Nur keinen Streit im Haus. Sie müssen zusammen leben. Und Thérèse redet vermutlich sowieso schon zuviel dazwischen. Neben Leonie Pierre und Paul, Leonies Kinder. Der größere könnte sich am Kleinen ein Beispiel nehmen. Für seine fünf Jahre, noch nicht in der Schule, scheint Paul vernünftiger als Pierre mit seinen sieben. Leonie könnte ihm doch die Hände ruhig halten. Hin und her mit dem Gebetbuch über die Kirchenbank.
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Hin und her. Neben dem Großvater - Marie zögert - sie kann sich nicht daran gewöhnen, Großmutter zu sein, dabei ist sie es schon seit sieben Jahren, seit Pierre - neben dem Urgroßvater hielte er Ruhe. Die beiden verstehen sich, Pierre und Grand-pierre, der hinter ihr in der zweiten Reihe steht, ihr Vater. Ihre Mutter, Thérèse, wundert sich Marie, neben ihm nicht nur nicht in der zweiten Reihe, sondern da auch auf dem zweiten Platz. Wahrscheinlich war Grand-pierre zu langsam gewesen. Sein gemächlicher Schritt. Immer Spaziergang. So daß Thérèse vor ihm in der Reihe war. Oder die beiden sind nebeneinander, Frau rechts, durch den Hauptgang gekommen. Aber Jacques kniet auch neben ihr, Marie, auf dem zweiten Platz. Und ist mit ihr durch den Hauptgang gekommen, sie rechts.
Gloria in excelsis Deo
Et in terra pax hominibus bonae voluntatis.
Laudamus te.
Benedicimus te.
Adoramus te.
Glorificamus te.
Gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam. Domine, Deus, Rex caelestis.
Feierlich. Latein. Für Erich und Jeanne etwas Besseres: unterbricht Marie ihre Aufzählung.
Der Herr Pastor läßt sich nicht lumpen.
Weiter. Hinter Grand-pierre und Thérèse die
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anderen Fontaines. Nicht einmal beide Onkel hat Jeanne einladen wollen. Das würde zuviel. Einigermaßen ausgeglichen müßte die Zahl der Gäste von beiden Seiten sein. Eine kleine Hochzeit. Nur ihren Paten. Mit Frau und Sohn mit Frau. Das Viergespann. Georges, Yvonne, Gauthier, Madeleine. Ob bunte Reihe oder die Männer als Rahmen, eins weiß Marie, ohne zu schauen: als erster, vorn in der Reihe, steht Georges. Ihr Bruder. Der schöne Georges. Herzensbrecher, Frauenheld. Vielleicht immer noch. Sie hatte damals zwar oft lachen müssen, wenn er, Haare und Schuhe ein Glanz, samstagabends zum Tanz ausging, aber habe der einen Erfolg, hatte sie von den Mädchen gehört. Da kann sich Gauthier noch so anstrengen, neben dem Vater verblaßt er. Georges zieht sich nicht an, Georges ist gekleidet. Wenn er lächelt, wie er sich bewegt, das ist nicht berechnet. Georges ist fein. Dadurch macht er oft unsicher, die um ihn sind, die mit ihm zu tun haben. Marie lächelt. Beim Tanz in den anderen Dörfern hatten die Mädchen ihm nie den Bauernjungen geglaubt. Er sei aus der Stadt. Wohin Georges dann auch gezogen ist. Wo er auch hingehört. Wenn nur ein bißchen auf Leonie abfärben würde von Georges. Sie muß nicht aussehen wie Madeleine, Gauthiers Frau. Die ist Verkäuferin in einer teuren Boutique. Und glaubt, Grace Kelly in früheren Jahren zu gleichen. So sieht sie
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aus! Nicht übertrieben, aber etwas mehr auf sich zu achten, das täte Leonie gut. So wie Yvonne, Georges zweite Frau. Nicht auffällig, aber gut angezogen, geschminkt. Marie dreht sich kurz um. Recht hat sie gehabt. Georges innen, der erste. Und Gauthier außen, das Schlußlicht der Fontaines. Dahinter noch, hat sie gesehen, Jacqueline mit Vater und Mutter, Walter und Isabelle.
Die Kleine hat heute einen guten Schutzengel gehabt. Nicht auszudenken, wäre dem Mädchen etwas zugestoßen! Nur Angeberei. Der eigene Vater und Georges Gauthier. Diese Autonarren. Verrückt. Einer wie der andere. Aber auch die Fontaines, und Walter und die alten Neys hatten gute Schutzengel. Nur ein wenig verbeultes Blech. Musiker, hatte Jeanne ihr erzählt, Freunde von Erich. Die drei auf der Empore. Ihre Namen hat Marie sich nicht merken können. Doch, einen, Issi. Der spiele Gitarre, Klavier, die Orgel. Den kenne Erich schon aus dem Konvikt. Auf der anderen Seite fällt Cilla Rau auf, lang, hager, Hautz' Haushälterin. Daß die in der Kirche, nicht in der Küche ist, und dort das Kochen im Auge hat, wundert Marie. Sie an Cillas Stelle stünde nicht hier. Und so ruhig da. Aber vielleicht wartet Cilla nur bis zur Trauung, geht dann. Sie steht auch allein für sich in der Kirchenbank hinter den anderen. Vor ihr, Marie riskiert einen Blick, der Fotograf mit Tochter und Frau. Erichs Paten.
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Die Gérards. Über den Fotografen hat sie schon manches gehört. Verrückte Geschichten. Da ist sie gespannt. Er scheint ein nervöses Zucken ums Auge zu haben. Als blinzle er ihr zu, hat es ausgeschaut, als sie sich vor der Messe begrüßten. Vielleicht eine Berufskrankheit. Seine Frau könnte in ihrem Alter sein. Schönes volles, dunkles Haar. Vielleicht nachgefärbt. Aber tiefe Augenringe, als weine sie viel. Wer weiß. Über die Tochter. Da hätte sie Grund. Gott sei Dank, daß Jeanne nicht so aussieht. Frisur, Schminke, die Kleider. Da muß Marie sich zuerst gewöhnen. Da fehlen ihr noch die Worte. In der ersten Reihe sitzt Opa Ney. Viel mitgemacht hat er, hat sie Jeanne ausgefragt. Den Sohn noch nach dem Krieg verloren. Mit Munition gespielt. Die Tochter, Erichs Mutter, im Kindbett gestorben bei Erichs Geburt. Gebeugt sitzt er da, beide Hände auf den Spazierstock gestützt. Der zittert. Vielleicht der Autozusammenstoß ...
Oma Ney schaut besorgt zu ihm hin, sagt etwas. Er schüttelt den Kopf. Der Lehrer, neben den beiden Alten, neben ihr, Marie, über den Gang, bemerkt davon anscheinend nichts. Schaut starr nach vorn. Ob auf die Bilder hinter dem Altar, den Altar, Pastor Claude Vigy oder das Brautpaar oder wer weiß wohin, wüßte sie aber gern.
Ein großer Vogel. Aber Grand-pierre hat gesagt: das ist kein Vogel. Ein Segelflugzeug ist das. Aber
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wie ein Vogel, denkt Paul. Segelflugzeuge kennt er. Er hat sie schon ganz nah gesehen. Am Boden. Auf dem Flugplatz. Am Flugtag. Mit Grandpierre, Pierre und seinem Vater ist er dahin gefahren. In einer großen Halle. So viele Flugzeuge. Einen Film hat er da auch gesehen. Alles ist ganz klein gewesen. Winzig klein. Das sind Wiesen und Felder. Hat sein Vater gesagt. Und das der Wald. Und da ein Dorf. Die Straße und die Autos. Wie Tierchen. Wie Käfer sind sie gekrabbelt. Ein Segelflugzeug ist langsam. Immer im Kreis. Über dem Dorf. Ob alles so klein gewesen ist wie in dem Film? Grand-pierre und Pierre und er. Und die Wiese. Und das Pferd. Und der Weg. Die Häuser. Die Kirche. Der sieht uns, hat Grand-pierre gesagt. So hoch ist der nicht. Und Pierre hat mit beiden Armen gewunken. Und ist im Kreis gelaufen. Richtige Flieger machen Krach.
Düsenjäger sind schnell. Die sind schon weg, dann kommt erst der Krach. Die fliegen vor ihrem eigenen Krach davon, hat Grand-pierre geschimpft. Und bleiben tut ein weißer Streifen. Aber am höchsten fliegen die Raketen. Bis auf den Mond. Von da ist die Erde ganz klein. Und doch sehen sie alles auf der Erde. Die Astronauten. Mit ihren Fotoapparaten. Sogar die Hand in deiner Hosentasche, hat Grand-pierre gesagt und gelacht. Das glaubt er dem Grand-pierre aber nicht. Viel-
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eicht wird er Astronaut. Dann fliegt er mit einem Raumschiff durch das Weltall. Wo die Sterne sind. Und Paul Beaumont schließt halb die Augen:
Und Pastor Claude Vigy ist Kommandeur.
Mit seinem weißen Raumanzug mit roten Streifen auf dem Rücken.
Und die Ministranten sind die Piloten.
Und der Altar ist die Kommandozentrale.
Und die Kirche das Raumschiff.
Der Kommandeur hebt die Arme.
Das ist das Zeichen.
Start.
Das Raumschiff hebt ab.
Draußen ist alles rot.
Sie fliegen.
Da wird Paul gestoßen. -
Setz dich, sagt Pierre.
Pastor Claude Vigy steht am Ambo:
- Lesung aus dem Buch Jesaia.
Wie Regen und Schnee vom Himmel fallen und dorthin nicht zurückkehren, sondern die Erde tränken, daß sie keimt und sproßt, daß sie Samen bringt dem Sämann und Brot als Speise, so ist es auch mit meinem Wort, das von meinem Munde ausgeht: Es kehrt nicht erfolglos zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und führt aus, wozu ich es sende.
Aber sie ertrinkt, die Erde. Seit einem Monat keine zwei Tage hintereinander mehr trocken. Soviel hat
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es seit vierzig Jahren nicht mehr geregnet. Die Sintflut. Hochwasser überall. Die Wiesen so naß, daß das Vieh im Schlamm steht. Unmöglich, aufs Feld zu fahren. So aufgeweicht. Der Traktor bleibt stecken. Und die Gebete um besseres Wetter?
Jacques Beaumont hadert.
Auf der anderen Seite die sind jetzt im Vorteil. Ausgenommen die zwei, die noch ganztags bauern. Nicht jeden Morgen der Blick aus dem Fenster. Die Sorgen. In der Fabrik ist jedes Wetter gut für die Arbeit. Aber für keine noch so bequeme, noch so sichere Arbeit in der Fabrik für noch so viel Geld würde er tauschen. Er ist Bauer. Davon lebt er. Dafür lebt er. Der Diersdorfer Walter hat doch nur noch den Autolack in der Nase. Der sieht doch nur noch Karosserien, Stoßstangen und Zierleisten. Aber vor allem, sagt Jacques sich, das ist sein Boden. Sein Land. Wieviel Arbeit hat er mit den Jahren hineingesteckt. Wieviel herausbekommen. Aufgeben könnte er das nicht, nie, verpachten, verkaufen. Da steckt er mit drin. Deshalb versteht er die auf der anderen Seite nicht. Kaum Land mehr. Kein Vieh mehr. Ein armes Dorf. Gut, bei der Arbeit bei jedem Wetter ein Dach überm Kopf. Ob es kalt ist oder warm, Schnee, Regen, Nebel oder trocken, das spürt er am eigenen Körper. Wenn er übers Feld fährt, ist da kein Dach. Das hört nicht auf. Hügel, so weit er sieht.
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Deshalb geht ihm nicht in den Kopf: Jeanne will weg. Das tut ihm weh. Er hört Jeanne noch: sei mir nicht bös. Ich will weg. Er hat es zu verstehen versucht. Gründe genug hätte Jeanne. Sie hat es nicht leicht gehabt. Im Dorf. Rote Haare Sommersprossen. Und dazu noch gescheit sein. Da war viel Neid. Auch ihr Bruder. Am liebsten hätte Robert Jeanne umgebracht. Schon in der Wiege. Einmal, zum Glück, ist Marie dazugekommen, wie Robert Jeanne aus der Wiege zu schaukeln versuchte. Und ein anderes mal, einer aus dem Dorf war zufällig vorbeigefahren und hatte Schlimmes verhüten können, hatte Robert den Kinderwagen, in dem Jeanne saß, lachte und winkte, den steilen Feldweg hinuntergestoßen. Beide Male hatte Robert nach den verdienten Prügeln ihn nur trotzig angeschaut. Nicht geweint. Und er war erschrocken über Roberts Haß. Und Marie, die eigene Mutter - wie oft mußte er, dem das sonst fremd und zuwider war - Marie ins Wort fallen und sie zurechtweisen, wenn sie im Streit Jeanne des Teufels nannte, die Roten, die hätten den Teufel gesehen, die Roten, das sei eine eigene Rasse, gestraft sei sie mit ihr. Weihrauch.
Vor dem Altar verneigt sich Pastor Claude Vigy und spricht leise:
- Heiliger Gott, reinige mein Herz und meine Lippen, damit ich dein Evangelium würdig verkünde.
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Dann nimmt er das Evangelienbuch vom Altar und geht zum Ambo. Die beiden Ministranten, der eine trägt eine Kerze, der andere schwenkt das Weihrauchfaß, begleiten ihn.
- Der Herr sei mit euch.
- Und mit deinem Geiste.
- Aus dem Evangelium nach Matthäus.
Mit dem Daumen der rechten Hand bezeichnet er das Buch, dann sich selbst Stirn, Mund und Brust mit dem Kreuzzeichen.
- Ehre sei dir, o Herr. Weihrauch.
- Da aber die Pharisäer hörten, daß er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. Und einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das vornehmste Gesetz? Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Wäre sie doch auch tot! Denkt Elis. Im Kindbett gestorben. Wie Clara. Erich, Claras Junge, vor dem Altar. Ihr Patenkind. Claras Hochzeit. Ein Jahr. Die Hochzeitsmesse fast schon das Totenamt. Einen schnellen Tod. Nicht faulen bei
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lebendigem Leib. Das miterleben zu müssen. Vom Fleisch fallen. Wie sie sich haßt. Ihren Körper. Ein Hohn ist das. Was der redet. Leicht liest sich das: deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Weihrauch, Kerzen und Orgelmusik. Ihre Totenmesse. Aber so leben zu müssen. Was weiß der schon davon! Sie hat es auch nicht gewußt. Vor der Operation.
Ich will dich lieben, meine Stärke,
ich will dich lieben meine Zier,
ich will dich lieben mit dem Werke
und immerwährender Begier;
ich will dich lieben schönstes Licht,
bis mir das Herze bricht.
Sie kann nicht mitsingen. Wie gern hat sie früher gesungen.
Daß auf einmal alles anders ist! Ihr ganzes Leben. Ein Hohn. Sein Ekel ist schon auf sie übergegangen. Frißt in ihr. So etwas auch noch zu singen:
Und immerwährender Begier
Die Operation. Daß alles anders geworden sein soll, deswegen nur, das kann sie nicht glauben. Aber weshalb?
Vorher - ungläubig hat sie oft den Freundinnen zugehört, wenn diese erzählten, mit ihren Männern sei nichts mehr los, vorbei, aus.
Sie hat nie mitreden können. Zu selbstverständlich war zwischen ihr und ihm, daß sie miteinander schliefen. Oft noch und unvermittelt. Auch tags.
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Aber nicht nur, miteinander zu schlafen, in allem wußten sie voneinander.
Ich will dich lieben, o mein Leben,
als meinen allerbesten Freund;
ich will dich lieben und erheben,
solange mich dein Glanz bescheint;
ich will dich lieben, Gottes Lamm,
das starb am Kreuzesstamm.
Wie er sie nannte, daraus hörte sie schon, was er meinte, wie er fühlte. Welchen Teil ihres Namens er nahm, zeigte schon seine Stimmung, um was es ging.
Feierlich, viel Zärtlichkeit, weich der Klang, stimmhaftes s, auf dem i betont, Elisa hieß sie nur für besondere Augenblicke.
Bethi: Lachgrübchen sieht sie da, geblinzelt, nicht selten der Klaps auf den Hintern dabei, die Verkleinerungsform, wobei ihm -chens, -les, -leins und -leinchens zuwider sind. Sie nähmen den Wörtern die Würde, hatte er einmal bemerkt.
Scharf, die erste Silbe betont, Befehlsform, falsch aufgestanden, mach schon, soll, hol, wieso schon wieder, was denn, schlecht gelaunt, immer mit Drohung dahinter: Elis hat sie immer gehaßt.
Elisabeth: unterschreib bitte hier, oder wenn sie mit Leuten waren, ihr Name, wie er im Ausweis steht, Geld, sachlich, Geschäfte, so auch seine Stimme dann.
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Ach, daß ich dich so spät erkannte,
du hochgelobte Schönheit du,
daß ich nicht eher mein dich nannte,
du höchstes Gut, du wahre Ruh;
es ist mir leid, ich bin betrübt,
daß ich so spät geliebt.
Natürlich kam es vor, daß er verwechselte, Elisa, laut, hart gerufen, sie traf, oder Elis, Elis, geflüstert, sie erschreckte. Ausnahmen aber. Elisabeth nennt er sie jetzt. Nur noch Elisabeth. Nach der Operation. So ist er auch zu ihr.
Sie hätte es wissen müssen. Im Krankenhaus schon. Sie hat es gespürt. Wenn er sie besuchte. Nie ruhig sitzen konnte. Auf und ab ging, um nicht die andere Frau mit ihr im Zimmer zu stören, auf dem Gang. Hereinkam, schweißnaß, wenn sie jemanden an ihm vorbei zur Operation geschoben hatten. Und den Tag nach ihrer Operation sei er am Fenster gestanden, hatte die andere Frau mit ihr im Zimmer ihr später erzählt, habe stundenlang nach draußen gestarrt, nur ab und zu den Kopf ihrem Bett zugedreht, um sofort wieder aus dem Fenster zu schauen.
Zuviel Phantasie, sagte er ihr, habe er, als sie ihn daraufhin ansprach. Seine Vorstellungskraft mache ihm sehr zu schaffen. Lasse zum Beispiel nicht zu, eine Spritze ohne Ohnmachtsanfall zu bekommen Die Verkrampfung. Wenn dieser spitze, scharfe Gegenstand in seinen Körper fahre. Das Bild raube
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ihm die Besinnung. Oder die Blutentnahme. Oder sie am Tropf hängen zu sehen. Augenblicklich breche ihm der Schweiß aus, er müsse sich setzen, es werde ihm schwarz vor Augen. Woher das wisse er auch. Eine Zahnärztin, zu alt eigentlich schon für die Praxis, habe kurz nach dem Krieg ihm vor dem Zähneziehen die Spritze in verschiedene Stellen des Zahnfleisches gestoßen, die beste Einstichstelle zu finden. Unerträglich. Seitdem habe er diese Angst, diese Abwehr.
Sie hätte es wissen müssen. Später, in der Kur. Einmal nur in vier Wochen war er da. Drei Tage. Ein Wochenende. Zu weit, gut, gibt sie zu. Aber diese drei Tage. Ein Fremder hatte sie besucht, ihr Mann. Kaum Berührungen, obwohl sie damals notwendiger gehabt hatte als irgendwann in ihrem Leben, angefaßt, berührt zu werden. Scheu, als habe sich etwas zwischen sie beide geschoben, zog er sich ängstlich fast vor ihr zurück, hatte sie gespürt. Die für ihn fremde Umgebung vielleicht, vielleicht die vielen anderen, die alle das Krankheitserlebnis gemeinsam hatten, hatte sie sich eingeredet. Sich damit zu beruhigen versucht, nachdem er abgefahren war. Sie hätte es wissen müssen. Spätestens nach zwei Wochen wieder zuhaus. Wie er ihr auswich. Er müsse sich wieder gewöhnen. Und vermied, ihr zu nahe zu kommen. Als habe sie Aussatz, hatte sie ihm gesagt. Und seine Antwort, das lege sich wieder, sie wisse doch, seine Phantasie, hatte sie
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geglaubt. Was hätte sie tun sollen! Dann, als er zufällig die Tür zum Badezimmer aufstieß, sie nackt sah, die Tür wieder zuschlug, davonlief, war es ihr klar. Sie war nicht mehr seine Frau. Die Frau, die er gekannt hatte. Daß etwas an ihr fehlte, hatte ihn entsetzt.
Der Schock.
Und sie hatte sich nicht zu helfen gewußt. Zu wem hätte sie gehen, mit wem hätte sie reden sollen? Zu einem etwa wie dem, der jetzt da vorn von gemeinsam die Last zu tragen, das Leid, spricht? Hätte sie dem von diesem Gefühl erzählen können, als sie vom Einkauf nachhaus kam, und aus dem Badezimmer sein Lachen hörte. Ihr Mann ... Und sie durch die angelehnte Badezimmertür die Tochter, nackt in der Wanne, und ihn auf dem Wannenrand sitzen sah, wie er ihr den Schaum in die Haare massierte. Was würde der da vorn davon verstehen!
Sie, so wie jetzt, mit Sprüchen füttern: deinen Nächsten wie dich selbst. Sie haßt sich. Ihren Körper. Sie haßt ihn, der ihr fremd geworden ist, ihren Mann. Neben dem sie immer noch lebt. Von der Erinnerung an eine gemeinsame Zeit.
Wäre sie doch auch tot.
Wie Clara.
Einen schnellen Tod.
Herrgott, einen schnellen Tod!
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Jetzt komme die Mitte der Hochzeitsmesse, sagt der Priester,
ihr Mittelpunkt auch: die Trauung.
Und er geht zum Brautpaar hinüber.
Ein Glück. Nicht er. Nur enttäuschte Gesichter. Immer wieder, wenn die Leute die Bilder sahen, die er gemacht hatte von ihnen, von dem Ereignis. Daß jetzt nicht er vorn am Altar vor dem Priester und dem Brautpaar herumhüpfen muß, das Auge am Sucher, auf dem Auslöser den Finger, freut ihn. So schnell wie der andere hätte er auch nicht sein können. Schon war der da. Vorn. Blitzlicht. Scheinbar einer aus der Verwandtschaft der Braut. Von ihrer Seite war er nach vorn gekommen. Jetzt erkennt er ihn. Der hat heute beim Autozusammenstoß den französischen Wagen gefahren. Sich aufgespielt wie Gott weiß wer. Das ist er. Zwei Fotoapparate um den Hals. Wie er die Position einnimmt. Wichtigtuer. Leicht in die Knie geht. Die Position wechselt. Neuer Blickwinkel. Zur anderen Seite stelzt. Sich aufbaut. Angeber. Wieder nichts. Nur Theater.
Denkt August Gérard, und kneift kurz das linke Auge zu. Das sieht der nie: Wie die drei Köpfe, Bräutigam, Priester, Braut ganz nahe waren für nur einen Augenblick.
Er hat das Bild. Schon fertig. Im Kopf. Sein Archiv. Abgelegt. Jederzeit griffbereit.
Jetzt Musik. Hierher gehört jetzt Musik. Nichts.
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Trocken. Die Worte alleingelassen. Nicht aufgeladen durch die Musik. Laut in die Stille Wort für Wort wie bedeutend!
Priester:
- Erich Hautz, ich frage Sie, sind Sie hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung aus freiem Entschluß mit Ihrer Braut Jeanne Beaumont den Bund der Ehe zu schließen?
Groß der Mund.
Das Ja.
Nur der Mund, der Ja sagt.
Aber da vorn der, wie sollte er auch, steht nur herum. Kein Foto.
Auch nicht vom Mund der Braut.
Und nicht die beiden Münder, die jetzt auf die Frage des Priesters nach christlicher Erziehung der Kinder und der Bereitschaft, als christliche Eheleute ihre Aufgabe in Ehe, Familie, Kirche und Welt gemeinsam zu erfüllen,
Ja sagen. Ja.
Aber jetzt. So muß es sein. Diese Fotos sind gewünscht. Der Ministrant bringt ein Tablett. Darauf dürften die Ringe sein. Der mit den Fotoapparaten stellt sich breitbeinig. Gespreizt. Der Pfau. Und wartet.
Zwischen Bräutigam und Braut, schmal der Durchblick, ahnt August Gérard mehr, als er sieht, das Tablett mit den Ringen darauf, darüber die Hand des Priesters.
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Jetzt den Bussardblick zu haben, wünscht er sich. Die weiche, weiße Hand des Priesters über den beiden Ringen. Wie sie segnet.
Nur das. Festgehalten. Ob die Hand des Priesters wirklich weich ist, feucht, schwammig?
Priester:
- Da Sie also beide zu einer christlichen Ehe entschlossen sind, so schließen Sie jetzt vor Gott und der Kirche den Bund der Ehe, indem Sie das Jawort sprechen. Dann stecken Sie einander den Ring der Treue an.
Wie sich die Stimme des Priesters verändert!
Anhebt, feierlich:
- Erich Hautz, nehmen Sie Ihre Braut Jeanne Beaumont als Ihre Frau an und versprechen Sie, ihr die Treue zu halten in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und sie zu lieben, zu achten und zu ehren, bis daß der Tod Sie scheidet? Erichs Ja, obgleich es laut und bestimmt gesagt ist, hört August Gérard nicht, denn seine Frau, das Taschentuch auf den Mund gepreßt, aber das hilft nicht mehr, schluchzt. Peinlich. Schluchzt so, daß Philipp sich umdreht. Sogar die von der anderen Seite drehen die Köpfe. Was tun! Elis schluchzt stärker. Sie zittert. Es schüttelt sie. Hilflos. Diese Hilflosigkeit. August beugt sich zu ihr, da stößt Elis die Tochter zurück, stolpert, das Taschentuch immer noch auf dem Mund, aus der Kirchenbank in den Gang, aus der Kirche hinaus.
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Das Portal fällt zu.
Stille.
Als habe es keine Unterbrechung gegeben, dieselbe Tonlage, feierlich, fragt der Priester die Braut, hört ihr Ja.
Blitzlicht.
Der Bräutigam steckt der Braut den Ring an. Blitzlicht. Die Braut dem Bräutigam. Blitzlicht, wie der Priester die Hand der Braut in der Hand des Bräutigams mit der Stola umwindet, darüber dann seine rechte Hand legt und, an alle gewandt, sagt:
- Euch aber, die ihr zugegen seid, nehme ich zu Zeugen dieses heiligen Bundes.
Und noch feierlicher:
- Was Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht trennen.
Die Vermählten knien nieder. Blitzlicht.
Der Priester spricht über die beiden ein Segensgebet. Das sind die gewünschten Fotos, denkt August Gérard. Da gibt es keine enttäuschten Gesichter.
Elis Gesicht. Ihre Augen. Als schneide ihr einer ins Fleisch. Und das Schluchzen. Zittern. Und hinauslaufen. Und die Augen der anderen auf ihr. Auf ihm. Das behält er im Kopf.
Die Eindrücke diesen Augenblick.
Gott der nach seinem Bilde
aus Staub den Menschen macht,
hat uns seit je zur Freude
einander zugedacht.

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