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Die Leidinger Hochzeit
 

KAPITEL III, Teil 1

Ein guter Koch
ist ein guter Arzt.

(Altes Sprichwort)

Für Cilla
 

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Endlich!
Seufzt Cilla.
Endlich sitzen sie. Gott sei Dank. Nach Tischkärtchen genau. Jeder an seinem Platz. Hat das gedauert!
Zuerst der Schnaps. Schon an der Tür. Einen eichenen Boden dem Magen einziehn, hat Grand-pierre Fontaine gemeint. Und mit einem Schluck den Satz wahr gemacht. Zwetschen oder Zwetschgen. Darüber waren vor ein paar Tagen Erich und der Lehrer in Streit geraten. Der Lehrer, Erich und sie hatten um den Küchentisch gesessen, um ein Gläschen vorzukosten. Gut gebrannter, abgelagerter 77er, den der Lehrer, 3 Flaschen, zur Hochzeit stiften wollte. Als Erich die Flasche in die Hand nahm und lauthals lachte. Das Etikett, das Etikett sagte er, als der Lehrer fragte, was es zu lachen gäbe. In der schönen, steilen Schrift des Lehrers war "Zwetschen" daraufgeschrieben. Zwetschen 77. Schnell hatte Erich den Kugelschreiber aus der Jackentasche und ein g eingefügt. Wieso er dazu komme, ein g einzufügen, hatte sich der Lehrer geärgert. Wieso Erich glaube, die Rechtschreibung für sich gepachtet zu haben. Zwetsche heiße es, die Zwetschen, seit eh und je. Und er hatte Erich den Kugelschreiber aus der Hand gerissen und das g ausgestrichen. Wetten, hatte Erich gesagt, er wette, daß es die Zwetschgen heiße, nicht Zwetschen. Und die beiden hatten gewettet: ohne g ziehe der Lehrer
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die drei Flaschen zurück, mit g erhöhe er auf fünf 77er.
Erleichtert hatte sie die beiden lachend aus dem Bücherzimmer kommen sehen. Keiner, beide hatten recht gehabt. Zwetschen wie Zwetschgen war richtig. Und hätte sie Zwetschken gewettet, auch sie hätte gewonnen, hatte Erich gelacht. Und der Lehrer hatte nicht zurückzuziehen brauchen und nicht erhöhen müssen. Wenn jeder Streit zwischen den beiden so ausgegangen wäre und weiterhin so ausgehen würde. Was gäbe sie darum!

Nach dem Schnaps das Herumstehen. Dann, Erich und Jeanne mußten die Gäste mehrmals bitten, auffordern, sich doch an die Hochzeitstafel zu setzen, das Suchen nach dem Platz am Tisch. Dort erstaunte, amüsierte aber auch bitterböse Mienen, hatte sie beobachtet, wenn die Gäste den Spruch zu ihrem Namen auf dem Tischkärtchen lasen. Sie bezweifelt, daß die Tischkärtchen eine gute Idee waren. Erichs Idee. Aber auch Jeanne war mit Feuereifer dabei gewesen. Eine Personenliste hatten sie sich gemacht. Und für jeden darauf einen Spruch. Er finde in speziellen Büchern der Stadtbücherei immer wieder neue Sprüche, erzählte Erich, die sie dann neben die entsprechenden Personen auf die Liste klebten. Manche hätten schon mehrere Sprüche. Da müßten sie den passendsten auswählen.

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Die Liste durfte niemand sehen. Geheimnis, hatte Erich ihr gesagt, Staatsgeheimais. Aber aus dem Kichern und Lachen, wenn sie über die Liste redeten, wußte sie, daß nicht nur harmlose Sprüche neben den Namen klebten. Die Kärtchen hat Jeanne dann gemalt. Das kann sie. Ihr Beruf. Auch einen richtigen Plan hatten sie sich für die Hochzeitstafel im großen Raum gemacht. Wie sie die Gäste setzten: wer neben wem und wem gegenüber. Und wieder umsetzten! Wie Figuren, hatte sie sich gedacht.
Erichs Vorschlag, die Hochzeitstafel dem berühmten Gemälde vom Abendmahl nachzustellen, hatten sie aufgeben müssen. Zu lang wäre die Hochzeitstafel geworden, alle auf einer Seite. Darüber ist sie froh. Das muß doch nicht sein, hat sie zu Erich gesagt. Aber er hat, wie immer nur gelacht, wenn es darum geht: Glaube, Kirche oder Gott. Darüber macht man keine Witze. Das ist ihr Ernst.
Jetzt, wie sie sitzen, läuft eine Linie unsichtbar quer durch den Tisch, teilt die Tafel in Erichs Seite und die Seite von Jeanne. Die beiden die Mitte. Ein Glück, daß der Diersdorfer Walter weit weg sitzt von Gauthier Fontaine. Die beiden nebeneinander oder sich Aug in Aug gegenüber: der nächste Zusammenstoß.
Aber, kaum haben alle ihren ihnen bestimmten Platz, da bittet der Fotograf, den Fotoapparat in der
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Hand, die Tochter nach draußen. Ein komischer Mensch, Erichs Pate. Sie wird aus ihm noch nicht klug. In der Kirche hat er kein Bild vom Brautpaar gemacht. Nach der Trauung, vor dem Kirchenportal, wie es üblich ist, die ganze Hochzeitsgesellschaft um das Brautpaar aufgestellt, auch nicht. Beide Male hat Gauthier Fontaine die Fotos gemacht. Aber, und das versteht sie nicht, der Fotograf, genau hat sie es gesehen, hinter ihm ist sie gestanden, hat Gauthier Fontaine fotografiert, wie er das Bild von der Hochzeitsgesellschaft macht. Auf Gauthiers Foto ist sie gespannt. Wie das aussieht, wenn der Fotograf, den Fotoapparat im Gesicht, zwischen den Hochzeitsgästen steht. Und jetzt kommt seine Tochter zurück, beugt sich zu ihrer Mutter, sagt etwas, aber die schüttelt den Kopf. Elis, Erichs Patin, geht es nicht gut. So, wie sie aussieht. Bleich und dunkle Augenränder. Verweinte Augen. Während der Trauung ist sie aus der Kirche gelaufen. Schlecht wird ihr geworden sein. Aber anstatt Elis steht der Lehrer auf, nimmt sein Kärtchen - gern wüßte sie seinen Spruch - und geht nach draußen.
- Der Nächste bitte! Das Tischkärtchen nicht vergessen! August ist doch immer noch der Alte. Verrückt. Verrückt wie früher. Ein Kopffoto mit Kärtchen. Von jedem Hochzeitsgast.
Das also.
Thérèse springt auf. Die hat noch Leben. Für ihr
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Alter. Wenn ihre Stimme nur nicht so durchdringend wäre:
- Eine Frau unter einem Dach: Friede.
Zwei Frauen unter einem Dach: Zwietracht. Drei Frauen unter einem Dach: Klatsch.
Thérèse lacht. Alle lachen. Nein, nicht alle. Marie schaut sauer. Und Leonie vor sich hin. Den Spruch könnte Jeanne ausgesucht haben. Sie zieht ja aus. Bleiben noch Thérèse, Marie und Leonie im Haus. Bevor Jacques Beaumont zum Fotagrafiertwerden hinausgeht, liest auch er seinen Spruch vor:
- Die Natur ist das einzige Buch,
das auf allen Blättern großen Gehalt bietet.
Goethe.
Bis alle fotografiert sind, will sie nicht warten mit dem Essen. Am besten, sie bittet den Herrn Pastor um das Tischgebet.
- Segne, Vater, dieses Essen.
Laß uns Neid und Haß vergessen,
schenke uns ein fröhlich Herz.
Leite du so Herz wie Hände,
führe du zum guten Ende
unsre Freude, unsern Schmerz.
Amen.
Schön. Auch wie er heute die Hochzeitsmesse gehalten hat. Seine Predigt. Nicht übertrieben, nicht zu lang. Und doch feierlich. Oft hat sie schon gedacht, wenn sie nicht dem Lehrer den Haushalt führen würde ... Denn die alte Ann, die dem Pastor
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saubermacht und auch kocht, kommt nicht mehr täglich. Oft nur noch einmal die Woche. Und im Winter gar nicht. Sie hat es in den Beinen, heißt es. Es geht nicht mehr. Da muß er sich selber helfen. Kochen könne er zwar, hat sie im Dorf gehört, aber wie. Da tut es ihm sicher gut, heute hier mitzufeiern.
Die Suppe:
Rindfleischsuppe mit Markklößchen. Dazu Weißbrot und Wein oder Bier oder Most oder Limonade, grün und rot, für die Kinder. Dafür hat Erich gesorgt. Wie früher, hat er gesagt. Alles wie früher. Wie lange hat er suchen müssen, bis er die farbige Limonade bekommen hat! Da hat sie mehr Glück gehabt. Zufällig, bei einem Besuch ihrer Schwester im Vorort der nahen Kleinstadt, hat sie von ihr erfahren, daß die vier A's, so hießen sie, für Feiern wie Kindtaufe, Kommunion, Hochzeit und Leichenschmaus kochten, für bis zu 60 Personen. Und das sei das Besondere: wie früher. Wie vor dem Krieg. Wie in ihrer Kinderzeit. Was es damals zu Festen für Essen gegeben habe. Dabei, die vier seien noch gar nicht so alt. Aber, sie selbst habe es einmal erlebt, einmalig, wie die vier die alten Rezepte beherrschten.
Sowohl der Lehrer wie Erich und Jeanne waren sofort dafür.
Ein Hochzeitsessen wie früher.
Und so hatte sie Anna, eine der vier, getroffen. Und
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nicht nur das Kochen, die ganze Hochzeit richteten sie aus, hatte Anna gesagt. Gedecke, Bestecke, Tische und Stühle, die Speisen, Getränke, sogar die Musik, alles werde von ihnen gestellt. Auch um Dekoration, Auf- und Abtragen, Spülen und Wiederherrichten der Wohnung brauche sich niemand zu kümmern. Für ungefähr dreifig Personen? Ein Leichtes sei das. Und beim zweiten Treffen, diesmal im Haus des Lehrers, war auch Maria dabeigewesen. Anna, Maria, Martha und Rosa, so hießen die vier. Deshalb, hatte Anna gesagt, die vier A's. So hätten sie zuerst die Leute, dann sie selbst sich genannt.
Wie sie dazu gekommen seien, hatte der Lehrer gefragt. Und Anna, die anscheinend immer für die anderen sprach, auch die älteste, hatte gesagt, das habe sich so ergeben. Sie hätten sich schon lange gekannt, durch ihre Männer auch. Dann hier und da ausgeholfen bei Festen. Zum Beispiel in den Vereinen der Männer. Und langsam, wie von selbst fast, hätten sie über den Spaß hinaus zur gemeinsamen Arbeit gefunden. Und seit ihr Mann und Rosas Mann arbeitslos seien, machten sie das sozusagen hauptberuflich. Anfragen mehr als genug. Denn auf jedem Fest seien soviele Leute, denen das gefalle, und die dann, wenn sie selbst ein Fest hätten, nach ihnen fragten. Die Männer bauten nur auf, Tische und Stühle, besorgten auch die Getränke, wenn es erwünscht sei. Aber darüber hinaus alles andere,
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Einkaufen, Backen, Kochen, Bedienen, Aufräumen, das sei Sache der Frauen. Ihre Sache. Zwei Dinge, hatte Erich eingeworfen, würde er gern selbst organisieren. Einmal, wie die Tische aufzustellen seien, da habe er schon einen Plan, zum anderen die Getränke. Außerdem, die Musik sei schon bestellt. Und Jeanne: sie übernehme die Tischdekoration. Kein Problem, das sei überhaupt kein Problem, hatte Anna gesagt.
Und so waren sie einig geworden.
Martha und Rosa tragen die Suppenschüsseln auf. Schwarzer Rock, schwarzer Pullover, darüber eine kurze, weiße Kittelschürze, in Brusthöhe, klein in Schwarz der Name aufgestickt, ein weißes Spitzenhäubchen im Haar, sehen sie gut aus.
- Selbst gemacht?
Der Fotograf, die Suppe hat ihn reingelockt, denkt sie, und eben mit der Nase fast in Rosas Suppenschüssel, steht jetzt vor ihr.
Ob er die Rindfleischsuppe meint oder darin die Markklößchen, sie nickt.
Obwohl, sie hat mehr zugeschaut. Geholfen auch. Nur wenig aber. Denn Anna, Maria, Martha, Rosa sind bestens eingespielt. Und dann: die großen Töpfe. Wo hätte sie die herbekommen? Ausleihen, aber wo? Und wer verleiht schon Töpfe! Und kaufen, für die einzweimal, die sie sie braucht ... Und dann das Rindfleisch. Schöne Stücke. Ausgesucht.
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Dazu die Rosenknochen. Martha, die kaufe ein. Anfangs bei dem, dann dem. Doch mit der Zeit, auch durch Erfahrung, sei sie Stammkundin bei bestimmten nur geworden. Ihr Metzger wisse schon, auch ihr Gemüsehändler, wozu das Fleisch, Gemüse, die Salate, daß auch in Mengen Qualität sein müsse.
Die Rosenknochen aufgesetzt in kaltem Wasser. Wie sie es auch tut. Das Rindfleisch erst ins kochende. Dann Sellerie und Lauch und Möhren - neu nur war ihr das Maggikraut - und Maggiwürfel, Salz dazu. Kochen lassen zwei, drei Stunden je nachdem. Das schmecke sie, sagt Anna. Das rieche man schon, wann es Zeit sei. Dann abgegossen durch ein feines Sieb. Daß Knochensplitter, Spitzchen hängenblieben. Und dann, wie früher üblich, heute kaum noch, vor dem Servieren eine knappe Viertelstunde, Tapioka Julienne zugeben. Das hatte sie vergessen. Aber schon beim Nennen war ihr, als säße sie als Kind am Sonntagstisch, die Suppe vor sich, und sie hört die Mutter sagen: das ist nur Tapioka Julienne. Die kleinen Klümpchen Schleim, die in der Suppe schwammen ... Und fünf Minuten vor dem Auftragen die Markklößchen hinein. Und ziehen lassen. Daß sie nicht zerfallen, sei das Kunststück. Das ist ihr nie passiert. Allerdings, schlechten Gewissens gibt sie zu, daß sie schon lange keine mehr gemacht hat. Selbst. Sie kauft sie. Eingeschweißt. Es lohne sich für zwei,
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gut, für drei, wenn Erich da war, nicht, hat sie sich eingeredet. Leicht gemacht.
Denn wieviel einfacher ist es, die Fertigpackung aufzuschneiden, als, wie sie gestern Anna zugeschaut hat, das Mark vorsichtig aus den Knochen zu lösen, es in er heißen Pfanne dann zum Zerlaufen zu bringen, danach die Knöchelchen auszusieben, das Mark erkalten zu lassen, die Eier darüber zu schlagen, dann in diese Masse Salz, Pfeffer, Maggi, Muskatnuß und Petersilie zu geben, und nach und nach Paniermehl - Weckmehl könne es auch sein -, bis man Markklößchen daraus formen kann, wie große Murmeln etwa, und dann auf einer Platte aufzureihen zum Trocknen über Nacht.
Selbst gemacht.Hat sie dem Fotografen zugenickt.
Da fällt ihr ein: zuhaus, als Kinder suchten sie immer in der Suppe nach Worten. Buchstabensuppe. Und wer ein Wort zusammenfand, war der Gewinner. Wie oft war ihnen da die Suppe kalt geworden. Hatte der Vater sie ausgeschimpft, zu essen, nicht zu spielen.
Hungrig ist sie noch nicht. Das ist auch gut so. Sie wird nachher mit den vier A's erst essen. Einer muß die übersicht haben.
- Wenn ihr mir schon so einen Spruch anhängt, dann sorgt auch dafür, daß ich mich daran halten kann!
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Ruft der Diersdorfer Walter.
- Also, Walter!
Stößt ihn seine Frau.- Was denn! Hier steht:
Noch keiner starb in der Jugend,
wer bis zum Alter gezecht.
- Walter!- Was denn! Weisheit ist das.
Garnicht so dumm, Herr Bodenstedt.
- Wer?
- Von dem ist der Spruch. Steht da.
Also, wo ist mein Bier?
Lacht er.
Ein Glück, der Diersdorfer Walter nimmt seinen Spruch nicht so ernst. Oder doch? denkt Cilla, als sie ihm aus der Küche das nächste Bier bringt. Durst hat er. Zuviel. Zu oft, hat seine Frau gesagt. Nicht einmal mehr ein ganzes Fußballspiel halte er durch. Nur noch im Sitzen. Vor dem Fernsehgerät. Das Bier neben sich. Da sei er aktiv.
Man sieht es ihm an.
Das mache die Ehe aus Männern, hat Erich zu Jeanne vor kurzem gesagt, als sie über Walter und Isabelle geredet haben. Früher ein guter Sportler - und heute? Aber Jeanne, und da gibt sie ihr recht: das habe nichts mit Ehe zu tun, im Verein, nach jedem Spiel, sie wisse Bescheid, da werde getrunken. Die zögen ihn mit.
Nur ein Jahr älter als Erich. Aber wenn sie vergleicht,
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vom Aussehen her, liegen Jahre zwischen den beiden. Erich sieht jung aus. Aber von ihr aus kann Walter trinken, soviel er will. Bier ist genug im Haus. Für die Hochzeit. Von da, wo sie steht, hat sie den überblick. Dreizehn Gäste um die eine, dreizehn um die andere Hälfte der Hochzeitstafel. Gut abgezählt. Nur in der Mitte, Erich und Jeanne gegenüber, zwischen den beiden Hälften, zu keiner zu zählen, das Gleichgewicht ginge verloren, der Herr Pastor. Dreh- und Angelpunkt zwar. Aber allein er für sich. Genau auf der Grenze.
Ob er oft einsam ist? öfter schon, nachts, wenn sie die Nerven plagen, und sie nicht einschlafen kann, und sie dem Rat des Lehrers gefolgt ist, tief durchzuatmen am Fenster, hat sie, hoch über dem Dorf, noch Licht aus dem Küchenfenster im Pfarrhaus gesehen. Was er jetzt macht, hat sie sich vorgestellt:
Wie er am Küchentisch sitzt, den Kopf in die Hände gestützt über seinem Brevier, langsam einnickt, hochschreckt und weiterbetet. Oder aber, den Schlaftrunk vor sich, einen schweren Roten, der leicht zu Kopf steigt, und ein Stück Weißbrot dazu, wie sie es aus einem Film kennt über einen noch jungen Priester in einem Dorf, der nur noch Weißbrot, in Rotwein getaucht, essen konnte und an Magenkrebs starb am Ende des Films.
Ob der Herr Pastor auch Tagebuch schreibt? Oder
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auch, wie sie, oft laut mit sich redet? Der hat doch Gott, hat der Lehrer sie schroff, sehr schroff, wie sie fand, unterbrochen, als sie ihm von dem nächtlichen Licht aus dem Pfarrhaus erzählte.
Trotzdem, glaubt sie, ist er oft einsam. Allein mit seinen Gedanken. Grübeln .
Heute hier nicht. Mitten zwischen den Hochzeitsgästen. Da ist Gespräch, gutes Essen. Wird sie schon dafür sorgen, daß ihm nichts fehlt. Und ein Gefühl, es könnte ihr Sohn sein, hält ihren Blick, einen kurzen Moment nur, auf Pastor Claude Vigy, der über die Suppe gebeugt sitzt.
Siebenundzwanzig Personen zählt Cilla.
Sich nimmt sie aus. Sie hat abgelehnt, an der Hochzeitstafel zu sitzen: einer müsse beweglich sein. Ungebunden.
Doppelt soviel Personen hätten Platz in dem Raum. Das Bücherzimmer, wie sie ihn nennt. Früher die Scheune. Die Scheunentore, das zu der Straße wie das zum Hof, sind jetzt Fenster. Rundbögen: Nicht so hoch wie die in der Kirche. Aber breiter. Viel Licht. Fast die ganze Giebelwand lang laufen die Bücherregale. Die Bibliothek des Lehrers. Gut seine Idee, die Bücherregale verschwinden lassen zu können. Hinter einem Vorhang wie im Theater. Vorhang auf: die Bücher. Vorhang zu: Landschaft wie draußen. Felder und Hügelkuppen mit Wald, ein Dorf, die Häuser, Bauern mit Pferden, das Wegkreuz, die Tränke,
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Geräte. Gemalt von einem, im nächsten Dorf wohnt er, der oft mit dem Lehrer zusammen ist. Gut macht sich die Hochzeitstafel - ein großes E ohne Mittelstrich: so stehen die Tische - vor diesem Vorhang. Erich und Jeanne sitzen wie in die Landschaft gemalt. Auch Jacques und Marie, Georges und Yvonne, und neben Erich der Lehrer und Erichs Patin Elis, der Fotograf und seine Tochter: Figuren in diesem Bild. Das die andern vor Augen haben. Der Pastor, zu seiner Linken Thérèse und Grand-pierre, Gauthier, Madeleine und Pierre, zu seiner Rechten Oma und Opa Ney, Isabelle, Walter und Jacqueline. Am oberen Ende der Tafel, zum Hof zu, die drei Musiker und am unteren Ende Robert, Paul und Leonie haben die Auswahl, können vierfach betrachten: die Bilder, die, die vor ihnen sitzen und die, die sie anschaun. Dazu noch ihr Gegenüber an Kopf- oder Fußende der Hochzeitstafel.
- Nur keine Angst! Kommt! In der Mitte, da, das ist das Hochzeitspaar.
Und Cilla schiebt die Nachbarskinder zur Hochzeitstafel. Markus trägt das in Goldpapier verpackte Geschenk, Angelika die Blumen. Blaue Aurikeln in einem Töpfchen mit weißer Manschette. Markus schaut zu Boden. Traut sich nicht. Angelika nimmt seine Hand, geht mit ihm forsch rund um den Tisch auf Erich und Jeanne zu. Da sind sie jetzt. Angelika stößt ihren Bruder an, nickt
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ihm zu. Der steht stumm. Das Kinn auf der Brust. Das Geschenk fest an sich gedrückt. Jetzt macht Angelika einen Knicks:
- Auf dem Dache sitzt der Spatz,
und die Spätzin sitzt daneben.
Und er spricht zu seinem Schatz
Angelika schaut Markus an. Wartet:
- Küsse
Markus sagt nichts. Angelika:
- Küsse, küsse mich
Markus:
- Mein holdes Leben.
Kaum zu hören war das.
Angelika:
- Bald nun wird
Markus:
- der Kirschbaum blühn.
Frühlingszeit ist so vergnüglich.
Ach, wie lieb ich junges Grün
und die Erbsen ganz vorzüglich.
Leise, schnell, ohne abzusetzen hat er das gesagt.
Angelika:
- Spricht die Spätzin:
Teurer Mann,
denken wir an unsre Pflichten!
Fangen wir noch heute an,
uns ein Nestchen einzurichten.
Angelika nickt Markus zu. Nickt:
- Spricht der Spatz
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Markus:
- Das Nesterbauen, Eierbrüten, Junge füttern und dem Mann den Kopf zu kraulen,
liegt den Weibern ob und Müttern!
Lachen.
Angelika lacht mit:
- Spricht die Spätzin:
Du Barbar!
Soll ich bei der Arbeit schwitzen?!
Und du willst nur immerdar
zwitschern und herumstibitzen!
Spricht der Spatz
Spricht der Spatz
Stößt sie Markus:
Spricht der Spatz
Markus, aber was für ein Gesicht macht er:
- Ich will dich hier
mit zwei Worten kurz berichtgen
weinerlich nun mehr als gesprochen:
- für den Spatz ist das Pläsier,
für die Spätzin sind die Pflichten.
Lachen. Beifallklatschen.
Und wieder Knicks.
Angelika gibt Jeanne die Blumen. Bekommt von ihr einen Kuß. Markus rührt sich nicht. Noch immer hält er das Geschenk fest an sich gepreßt. Angelika nimmt es ihm ab. Und reicht es Jeanne. Alle lachen. Da dreht sich Markus um, läuft zur Tür, Angelika hinter ihm her, will ihn halten.
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- Nur keine Angst.
Schon vorbei.
Schon gut.
Und Cilla bringt die beiden über den Gang ins Fernsehzimmer. Da sind auf einem Tisch die Geschenke, die schon am Vortag und noch während der Hochzeitsmesse gebracht worden sind, aufgestellt. Und auf der Kommode, vorbereitet schon, verpackt und auf Papptellern, die Kuchenstücke für die, die die Geschenke bringen.
- Keine Schule?
- Heute nicht.
Sagt Angelika und Markus schüttelt den Kopf. Ihm steckt sie noch eine Tafel Schokolade zu.
- Für euch beide.
Und paßt auf, daß der Kuchen nicht auf den Boden fällt!
Und gut habt ihr das gemacht. Sagt das eurer Mutter und viele Grüße.
An der Hochzeitstafel lachen sie noch immer über Markus, Angelika und das Gedicht. Als Cilla die Aurikeln und das in Goldpapier gepackte Geschenk der Nachbarn zum Fernsehzimmer trägt, hört sie Leonie:
- Nehmt euch ein Beispiel!
Du und dein Bruder.
Nehmt euch an den beiden ein Beispiel!
Grins nicht so blöd, Pierre!
Nicht ein Wort würdet ihr zwei behalten.
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Nicht ein einziges.
Aber dumm lachen.
Und in der Tür schon, Robert:
- Laß die Kinder doch.
Laß sie doch heute in Ruhe! daß Jeanne und Erich so viele Geschenke bekommen würden, hätte sie nie geglaubt. Gestern schon und heute noch während der Hochzeitsmesse. Und das wird noch nicht alles sein, denkt Cilla und öffnet die Tür zur anschließenden Küche.
Anna schneidet das Rindfleisch und schichtet die Scheiben terrassenförmig auf Platten, die Maria mit Tomatenrosetten garniert. Zart, es zerfällt fast zwischen den Zähnen, das Stückchen Rindfleisch, das Anna ihr zum Kosten gegeben hat.
- So muß es sein.
Sagt Anna, die ihr aufmerksam zuschaut beim Kauen.
- Dann ist es richtig.
Und aufgetragen!
Scheucht sie Martha und Rosa, die die leeren Suppenschüsseln in die Spüle stellen. Auch Cilla trägt auf.
- Die tiefen Teller,
die tiefen Teller noch stehen lassen!
Bittet Martha Marie Beaumont, die eilfertig die tiefen Teller hatte zusammenstellen wollen.
- Das Rindfleisch und die Salate noch auf die tiefen Teller.
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Wie früher.
Cilla hat ihren Platz wieder eingenommen.
Der verhängten Bücherwand gegenüber. Zwischen den beiden Eingängen vom Hausflur zum großen Raum. Die Türen sind ausgehängt für die Hochzeit. Günstig: durch den vorderen Eingang kann sie sofort vom großen Raum in das Fernsehzimmer, durch den hinteren ohne Umweg direkt in die Küche. Nur der Flur ist dazwischen. Von Fernsehzimmer und Küche die Türen sind nicht ausgehängt, aber weit aufgestoßen.
Die Salate!
Gauthier Fontaine eilt an ihr vorbei nach draußen.
- Das muß ich haben!
sagt er.- Diese Farben!
Mit einem Fotoapparat kommt er zurück und schaut, von wo er die Schüsseln mit Schnittlauchsalat, den Silberzwiebeln, Karottensalat, den süßsauren Zwetschgen und den eingemachten Gurken am besten im Bild hat.
Sie hat das Bild.
Steht sie, sieht sie über vieles und viele hinweg. Wird auch gesehen: "Die Lange". Du wächst uns allen noch über den Kopf, hatte ihre Mutter ihr früh schon gesagt, als sie, die jüngste von sieben, die Geschwister beim Wachsen zu schnell überholte. "Unsere Große" hieß sie zuhaus. In der Schule hat die Lehrerin an ihr, auf eine Art, die sie
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ihr nie verzeiht, der Klasse gezeigt, daß hoch, groß und lang nicht dasselbe seien. Vorn an der Tafel mußte sie stehen, einen Kopf "größer" als die Lehrerin. Und, daran erinnert sie sich noch Wort für Wort, stell dir vor, hat die Lehrerin zu ihr gesagt, du singst anstatt "Großer Gott wir loben dich", da hat die ganze Klasse schon losgelacht. Sie ausgelacht, hat sie damals gedacht. Immer Extrawurst, schimpften die Geschwister, wenn sie nicht wie sie in der nahen Kleinstadt bei Salomon Kleider von der Stange bekam, sondern vom Schneider. Dabei, wie gern hätte sie Kleider von der Stange, normale Schuhgrößen getragen, wäre sie wie der Durchschnitt gewachsen gewesen! Vor allem in ihrer Jugend. Sonnabends, wenn sie den schmalen Weg den Bach entlang zur Mühle außerhalb des Vororts spazierten. Wo neben dem Mühlrad der Tanzboden war. Einfache Tische und Bänke herum. Ein kleines Podest für die Musiker. Akkordeon, Baß und Geige. Mehr nicht. Bier oder Most vom Faß und Schmalz- oder Quarkbrote dazu. Und die Schwestern schon tanzten, und die Brüder mit ihren Frauen oder Bräuten, und sie allein saß. Bis einer, meist nicht vom Vorort, sie aufforderte zum Tanz und erschrocken das zweitemal nicht mehr kam. Denn, wenn sie sitzt, ist sie wie alle. Sobald sie aber aufsteht, ist ihr kaum einer gewachsen. Aufschauen müssen sie alle zu ihr, denen sie, ohne sich auf die Zehen stellen zu
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müssen, auf dem Scheitel die Haare zählen kann. Bis er gekommen war. Und auf den ersten Blick hat sie gewußt: das ist er. Ober dc-. jie nicht hinwegschaut. An den sie sich lehnen kann. Nicht nur für diesen Tanz. Und den nächsten. Und den Abend und das nächstemal. Und so war es gekommen.
- Ewig nicht mehr.
Hört sie den Lehrer.
- Schon ewig her.
Elis, zum Rindfleisch keine süß-sauren Zwetschen?
Aber Elis, Erichs Patin, schüttelt den Kopf. Beide Hände hält sie über ihren Teller. Vorhin, von der Suppe nur einen Löffel. Jetzt nichts. Erichs Patin geht es nicht gut.
- Erich? - Gern. Her mit den Zwetschken!
Wie er das ausspricht! Nur keinen Streit. Hoffentlich nicht!
- Zwetschen, Zwetschgen, Zwetschken. Was ist richtig? Cilla und Erich scheiden aus. Die wissen es.
Ruft der Lehrer.
- Keins.
Sagt Thérèse.
- Keins ?
Der Lehrer und Erich in einem.
- Keins.
Sagt Thérèse.
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- Was dann?
Fragt Jeanne.
- Quetschen.
Sagt Thérèse.
Quetschen.
- So wird es gesprochen hier. Nicht geschrieben. Aber der Lehrer scheint unsicher.
- Was ist richtig: Zwetschen, Zwetschgen oder Zwetschken. Nicht gesprochen oder geschrieben, war gefragt. Und:
Keins. Sag ich. Quetschen, sag ich. Sagen wir hier. Thérèse. Typisch Thérèse. Wie immer. Laut. Durchdringend. Bestimmt: So ist es.
- Sie hat recht.Erich sagt das.
- Thérèse hat immer recht. Ergänzt ihn Jeanne.
- Egal, ob Quetschen, Zwetschen, Zwetschgen oder Zwetschken, es ist schon ewig her, daß ich zum Rindfleisch süß-saure gegessen habe.
Lacht der Lehrer. Gott sei Dank! Thérèse hört nämlich nicht mehr auf, hat sie erst einmal angefangen.
- Ich weiß noch gut, bei uns zuhaus, zum Rindfleisch immer süß-saure Quetschen.
Gut gemacht, der Lehrer. Wie er Thérèse jetzt zugezwinkert hat.
- Das war ein Muß. Oma Ney, bei euch doch auch.

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