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Die Leidinger Hochzeit
 

KAPITEL III, Teil 2

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Oma Ney ist Oma Ney, auch für den Lehrer. Obgleich, denkt Cilla, es ist doch seine Schwiegermutter. Aber, er redet sie mit Oma Ney wie Erich an. Nur Erich, weiß sie, sagt nicht euch, sagt du zu Oma Ney.
- Und möglichst einwandfreies Obst. Also ganze Zwetschen. Also mit den Kernen. Gut waschen. Abtropfen lassen.
Oma Ney macht Zwetschgen ein. Süß-saure. Gut im Gedächtnis noch. Für ihre achtundsiebzig Jahre.
- In die einzelne Zwetsche zwei, drei Einstiche machen. Dann in große, die großen Einmachgläser eingefüllt. Essig und Zucker aufkochen. Erkalten lassen. Den Sud dann, den Essig-Zuckersud, dann über die Zwetschen gießen. Einen Eßlöffel Rum dazu. Einkochen.
Ja, so wars.
- Damit wird es dieses Jahr wahrscheinlich nichts. Bei diesem Wetter. Regen, Regen, Regen. Da verfault das Obst am Baum.
Wirft Jacques ein:
- Ein Sauwetter.
- Aus diesem Teller kann ich nicht essen. Ich schmecke immer noch die Suppe durch!
Ein Wunder, wenn Marie das mit den tiefen Tellern hätte auf sich sitzen lassen!
- Rindfleischsuppe. Und jetzt das Rindfleisch. Das paßt doch, oder?
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Jeanne ist schon schnippisch!
Jeanne und Marie. Wie Erich und der Lehrer. Nur keinen Streit! Heute ist Hochzeit.
- Und die Salate! Die Suppenreste sollen wohl das Dressing sein!
Wird Marie heftig! Wie befürchtet. Um Gottes willen keinen Streit! Nur diesen einen Tag.
- Frauen hassen einander,
aber sie nehmen sich gegenseitig in Schutz. Diderot.
Das sticht. Lachen. Marie nicht.
- Gib her!
Wie sie jetzt Jacques ihr Tischkärtchen aus der Hand reißt. Und zusammenknüllt. So wenig Beherrschung. Die Hochzeit, so wie sie ist, und daß sie hier ist, im Haus des Lehrers: Voll Wut ist Marie, sieht Cilla ihr an.
- Die Köpfe! Zwischen den Gängen, nur wenn ihr mögt.
Der Fotograf meint die Musiker. - Ja. Denn der neben der Tochter des Fotografen am Tischeck hebt schon sein Kärtchen:
- Musik ist der Schlüssel
vom weiblichen Herzen.
Seume.
- Wo die Sprache aufhört,
fängt die Musik an.
E. T. A. Hoffmann:
Darauf Erichs Freund. Mit dem er Jahre zusammen
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war. Im Konvikt. Kann der Orgel spielen! So hat sie noch keinen gehört.
- Musik ist höhere Offenbarung,
als alle Weisheit und Philosophie.
Beethoven.
- Lauter!
Das ist Thérèse. Jeder, der nicht laut ist wie sie, ist zu leise, meint sie. Aber der dritte Musiker, lange Haare, ein Mädchengesicht, lächelt nur.
Ein feines Gesicht. Der kann niemandem weh tun. So stellt sie sich einen Musiker vor. Vergeistigt. Das macht die Musik aus einem. Nur etwas kürzer die Haare. Obwohl, er hat schöne. Bis auf die Schultern. Blond, und leicht gewellt. Was gäbe manche Frau dafür her! Aber mehr wie ein Mann wäre ihr lieber. Cilla, Cilla. Seine Großmutter könnte sie sein. Könnte, hätte, wäre: wenn nicht, wenn ...
Dieser verfluchte Krieg! Gardemaß. Und das hatte er dann davon: sofort eingezogen. Und sie? Aber wer fragt dann schon danach. Wieder allein. Zum Glück war nicht mehr viel mit dem Tanzen. Ihre Brüder waren verheiratet. Die Schwestern heirateten. Beide an einem Tag. Doppelhochzeit. Verglichen mit der hier, war das damals ein Volksfest. So einen großen Raum hatten sie nicht. Auch nicht Hilfen, eingespielt wie die vier A's. Alles ging ein wenig drunter und drüber. Aber auch lockerer, fröhlicher. Ausgelassen. Als hätten alle geahnt,
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was auf sie wartete. Sogar ihr Gardemaß, so hatte sie ihn getauft, war da. Zufällig Urlaub für eine Woche. Aus Frankreich. Kinderspiel, einfach ein Kinderspiel, hatte er ihr gesagt. Nichts Näheres. Nur: Cilla, uns ist doch keiner gewachsen! Schon körperlich nicht. Und hatte sie in den Arm genommen. Immer, wenn sie zurückdenkt, sich das damals vorstellt:
ihre glücklichste Zeit.
Diese Woche.
Und er da.
Drei Tage Hochzeit der Schwestern.
Nicht, wie hier, heute, nur den.
Und morgen schon Alltag.
Wie war sie stolz, das weiß sie noch, auf seine Uniform. Mehr, daß die anderen respektvoll schauten, grüßten, wenn sie, fest eingehängt, an seinem Arm mit ihm die Vorortstraße hinunterflanierte, als auf das Kleidungsstück. Das nicht. Aber, was es bewirkte: ein schönes Paar.
Zu kurz. Und er wieder weg. Und sie wieder allein zuhaus. Du hast doch noch soviel Zeit: wie recht die Mutter hatte damit. Nur so, so hatte sie es nicht gemeint, wie es dann kam. Du bist noch so jung. Zu jung. Wie ihre Brüder. Und die Schwestern. Die Männer eingezogen. Bis auf den einen Bruder. Joseph. Den nehmt ihr mir nicht. Den nicht. Einer bleibt mir zuhaus! hatte ihr Vater den Beamten angeschrien.
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Und dann der Schlaganfall.
Frühmorgens war die Mutter zu ihr ans Bett gekommen: sie solle sich den Vater mal anschaun. Erschrocken sei sie, wie er daliege. Und nie wird sie vergessen: sein Gesicht, die eine Seite verzerrt, der Mund hing ab der Mitte nach unten schief, das Augenlid seltsam verzogen, Speichel, der aus dem Mundwinkel lief. Zwei Hälften Gesicht, die so nicht zueinander gehörten, sah es aus. Sie war sofort zum Hausarzt gelaufen. Und als der mit ihr zurückkam, war klar: die ganze rechte Seite gelähmt.
Und sofort in das Krankenhaus. Tut das weh!
Dieses Geräusch.
Maries Teller, den Martha auf Jacques Teller stellt. Und weiter auf Jeannes. Wenn Marie jetzt, wie sie will, könnte! Martha würde etwas zu hören bekommen. Aber Marie hält sich, Gott sei Dank, zurück.
- äinschi
- Wie?
- äinschi.
Hört sie die Tochter des Fotografen zu dem Musiker neben ihr sagen. - Ah, äinschi.
- Ang‚lique!
Das ist der Orgelspieler.
- Angelika,
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sagt der dritte. Das Engelsgesicht mit dem Blond.
- Nein, äinschi. Ganz einfach. Amerikanisch. äinschi:
die Tochter des Fotografen.- Was habt ihr nur mit den Amis!Muß sich der Diersdorfer Walter einmischen?
Er macht seinem Tischkärtchenspruch alle Ehre. Wieviele Biere sie ihm schon hat bringen müssen, zählt sie nicht mehr.
- Was findet ihr nur an denen? Zum Kotzen!
- Walter!
Isabelle zerrt ihn am Arm.
- Stimmt doch! Sogar schon die Kinder. Meine Tochter: Nur noch Donald Duck, Speedy Gonzales, Superman, Charly Brown im Kopf!
- Meinen Charly Brown! Meinen Charly Brown! Wegen dem blöden Auto hab ich ihn heute verloren. Du bist schuld!
- Komm, komm! Auf der Straße wird nicht gespielt! Außerdem: da gibt es doch tausend davon! Tausend!
- Nein, nur einen. Meinen. Meinen Charly Brown. Ich geh ihn suchen!
- Bleib sitzen. Bleib hier!
Wie der Diersdorfer Walter sein Töchterchen festhält, es auf den Stuhl drückt!
Jacqueline weint.
- Da. Da habt ihrs! Alles wegen der Amis. Diese gottverdammten Amis! Hol sie der Teufel!
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- Walter!
Isabelle schaut um sich. Verzweifelt.
- Äinschi! Das soll ein Name sein! So nennt sich doch kein Mensch. Kein anständiger!
- Hej, hej! Was hat dieser Typ denn?! Reißt die Klappe groß auf, macht hier den Macker! Quält seine Tochter! Tut so, als hätte er hier was zu sagen!
Nicht auf den Mund gefallen, die Tochter des Fotografen!
Aber jetzt, jetzt ist es soweit. Was sie den ganzen Morgen über schon im Gefühl hat. Seit sie das Kreischen gehört und sich dabei in den Finger geschnitten hat. Das war ein Zeichen. Sie hat es gewußt. Aber, noch ehe der Diersdorfer Walter loslegen kann, bittet der Fotograf seine Tochter und die drei Musiker zum Fotografieren.
- Hej, Hej! Und der Spruch?
Der Diersdorfer Walter kann es nicht lassen. Aber, wundert sich Cilla, die Tochter des Fotografen dreht sich zu ihm um, lacht, liest laut vor:
- Jedes Herz ist eine Bude auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten.
Diersdorfer Walters "Nochmal" hört sie nicht mehr. Da ist sie schon draußen.
- Wie für die Verbrecherkartei! Nein. Dafür geb ich mich nicht her, mein Gesicht. Das kann ich mir vorstellen: wie ein Fahndungsplakat. Nein, nein. Da soll er sich seine Dummen suchen!
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Gauthier Fontaine scheint verärgert. Schon nach der Messe, heute vormittag, beim Gruppenbild vor dem Kirchenportal, als der Fotograf ihn beim Fotografieren fotografierte, war er wütend. Das hat sie ihm angesehen.
- Gauthier hat vollkommen recht! Was soll das ganze Theater?! Mit den Sprüchen. Hätten Kärtchen mit Namen und irgendeiner Verzierung, Blümchen oder was weiß ich, nicht genügt?
Marie hat ihren Spruch, und daß Jacques ihn laut vorgelesen hat, anscheinend noch nicht verwunden.
Daß der Pastor nichts sagt! Still sitzt er da. Redet nichts. Ißt, schaut nur. Erich grinst. Er kennt Marie. Jeanne auch.
- Ich finde die Idee mit den Sprüchen gut. Namen aufschreiben und Blümchen malen kann jeder. Jeanne und Erich haben sich doch was gedacht dabei. Ich bin begeistert.
Sagt Georges Fontaine.- Und dein Spruch?
Fragt Gauthier.
- Nur wenn du deinen vorliest, mein Sohn!
Gauthier Fontaine springt auf. - Was jetzt? Er steigt auf den Stuhl:
- Einen Moment. Nur einen Moment. Bitte! Noch nicht auf die Teller! Das Foto zuerst.
Martha und Rosa schauen erstaunt auf Gauthier auf dem Stuhl.
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Von so hoch hat er bestimmt gute Sicht: auf den rohen, auf den gekochten Schinken, noch in der Schwarte in Scheiben geschnitten und stufenweise auf die Platten gelegt, garniert mit Petersiliesträußchen; auf die Schüsseln mit Bohnen, Spargel, Erbsen, die Schüsseln mit Blumenkohl, nicht Köpfe, sondern schon in einzelne Röschen geteilt, übergossen mit weißer Sauce, geröstete Semmelbrösel darüber, wie sie auch das Kartoffelpüree zieren. Und auf die Schüsseln mit Sauerkraut ...
Wenn die Weißkrautköpfe Ende September, Anfang Oktober - das kam auf das Wetter an - in die großen Weidenkörbe geerntet, zuhaus im Hof standen ... Geputzt werden mußten. Die Außenblätter ab, aus der Mitte den Strunk mit dem Sauerkrautmesser geschnitten. Alle halfen. Sauerkrautmesser und Sauerkrauthobel waren geliehen, "gingen" von Haus zu Haus. Und sie sich mit den Strünken bewarfen, bis der Vater: hört auf! Jetzt ist Schluß! rief. Wie die Weißkrautköpfe über den Sauerkrauthobel gerieben wurden. Der Abstand der Messer im Hobel konnte eingestellt werden auf die gewünschte Dicke der Schnitzen: grob, mittel, fein. Der Vater war immer für "mittel", kann Cilla sich noch erinnern. Die Schnitzen fielen in die unter dem Hobel stehende Bütte. Und einmal, nicht aufgepaßt, daß er schon das Ende des Weißkrautkopfes über den Hobel rieb, hatte ein Bruder - war es Albert, war es Paul, sie weiß es nicht
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mehr - sich an den scharfen Messern geschnitten. Wie ihr ganz mulmig geworden ist, aber sie die Augen nicht wegbekam von der Bütte mit dem Blut auf dem Weißkraut. Bis die Mutter sie angeherrscht hat: geh ins Haus! Los, geh ins Haus!
Die großen, braunen Steinguttöpfe mit den eingelassenen Griffen. Das hat sie sehr gern gemacht: eine Lage Weißkraut hinein, darauf dann die Handvoll Salz, nachgedrückt mit den Händen - einmal hatten sie einen Stampfer, ausgeborgt -, dann wieder Weißkraut, Salz, Lage auf Lage bis an den Topfrand. Obenauf dann der weiße Leinenlappen. Beschwert mit den auf die Töpfe zugeschnittenen Holzscheiben, halbiert, daß sie beweglich waren, obwohl noch die Steine auf ihnen lagen. Steine, die kein Wasser ziehn, müssen es sein, hat der Vater sie einmal belehrt. Dicke Kieselsteine, die die Brüder vom nahen Bach gebracht hatten. Und dann: darauf war sie immer so neugierig, daß sie fast täglich in den Keller ging, nachschaun: Wie der Gärschaum hochkam, abgeschüttet, Steine, Holz und Lappen davon gesäubert werden mußten, dann wieder auf die Töpfe gegeben wurden. Alle acht Tage so. Nach fünf, sechs Wochen gab es dann das erste Sauerkraut. Hol mir Sauerkraut aus dem Keller, die große Schüssel voll, hört sie die Mutter noch.
Auch bei ihrer Hochzeit ...
Hochzeit - kaum so zu nennen. Kriegshochzeit.
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Um den Tisch die engsten Verwandten nur. Alle in Schwarz, stumm. Der Vater, erst kurz aus dem Krankenhaus, mußte gefüttert werden, hilflos, wenn ihm die Tränen liefen. Zwei Söhne, zwei ihrer Brüder, Albert und Paul, waren bereits in Rußland gefallen. Ein Sohn und drei Schwiegersöhne standen noch dort an vorderster Front.
Als erster war Albert gefallen. Ihr Vater lag noch im Krankenhaus, als sie die Nachricht bekamen. Um Gottes willen, ihm nur nichts sagen davon, hatte der behandelnde Arzt ihnen geraten. Das könnte sein Tod sein. So trugen sie bis ins Krankenhaus Schwarz, zogen sich um, bevor sie zu ihm an das Krankenbett gingen. Und dann, obwohl ihm zu sprechen noch schwer war, die Fragen, beständig: wie geht es Albert, wie geht es Paul, Eduard, wie geht es den Schwiegersöhnen ? Lest mir die Post vor ! Keine? Wieso nicht? Oft, wenn sie um sein Bett herum saßen, und er ihnen in die Augen zu schauen versuchte - sein Blick: ihr sagt mir clie Wahrheit nicht - war es kaum mehr auszuhalten gewesen. So daß sie Joseph, der als einziger noch zuhaus war, gebeten hatten, dem Vater, daß Albert gefallen war, mitzuteilen. Zweimal, hat er ihnen spßter erzßhlt, ist er bis an die Zimmertür, hatte dann aber doch nicht den Mut. Beim drittenmal ist er hinein, und der Vater, statt ihn zu begrüßen, hat ihn angeschaut, lange, und dann gesagt: Sag nichts. Ich weiß es. Albert ist tot. Ob es die schwarzen Strümpfe
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waren, die Alberts Frau umzuziehen vergessen hatte, ob er es aus ihren Augen gelesen hatte, ob es die sichere Ahnung gibt, wenn es um Menschen geht, die einem nah sind, auch in der Ferne, der Vater hat ihnen nie gesagt, woher er es wußte.
Dann Paul. "Gefallen", das Wort hat einen Schrecken für sie, den nur "vermißt" noch übertrifft. Daß es ein Volltreffer gewesen sein soll; "Da hat er nichts mehr gespürt", hätte der Bote gesagt, hat Pauls Frau geschluchzt. Es hat sie nicht getröstet. Als sie zuhaus um den Küchentisch saßen, Vater, Mutter, der Bruder, die Schwestern, die Schwägerinnen, zwei von ihnen jetzt Witwe, und kein Wort mehr zu sagen wußten. Auch ihr Mann war inzwischen in Rußland. Alle in Rußland. Rußland ist weit, die Ostfront ist lang, die braucht viel Soldaten. Verbraucht, hätte er sagen sollen, der von der Partei, der zum Trostzusprechen abkommandiert war. Dann Eduard. Sie war einkaufen gewesen. Um Brot hatte sie angestanden, als die Mutter in den Bäckerladen kam. Kreidebleich. Weiß wie ein Tuch. Und sie aus der Reihe riß: Schnell, der Vater! Auf dem Heimweg, sie liefen, erfuhr sie: auch Eduard gefallen. Und der Vater am Verrücktwerden. Im Schlafzimmer eingeschlossen. Tobt er. Und Agnes schon zum Pastor.
Im Hausflur hörten sie ihn. Dumpfe Schläge auf Holz, auf Stein.
Der Krückstock. Mit dem Krückstock ist er nach
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oben. Damit hat er um sich geschlagen. Schlägt er zu. Jetzt weinte die Mutter:
Ununterbrochen. Seit dem. Da hat sie gestanden, Eduards Frau, in der Tür. Er hat sie nur angeschaut. Kein Wort gesagt. Aufgestanden. Ans Küchenfenster. In den Hof gestarrt. Nur das Atmen. Und dann ganz plötzlich geschrien. Kein Mensch schreit so. Vor Schreck hat Eduards Frau mitgeschrien. Und ist dann aus dem Haus gerannt.
Mit den Schlägen jetzt auch das Schreien. Und Stampfen.
Nie kann sie vergessen, wie der Pastor die Treppe hoch den Namen des Vaters rief. Immer wieder. Ohne Gehör zu finden. Und sie unten standen, zitterten, Agnes drückte ihre Hand, die Mutter hielt sich am Treppengeländer.
Und der Pastor durch die verschlossene Schlafzimmertür mit ihm zu sprechen versuchte. Umsonst. Bis er anfing, aus der Bibel zu lesen. Laut, als lese er von der Kanzel vor der Gemeinde. Und sie weiß auch noch, was er las. Hiob. Aus dem Buch Hiob. Stellen daraus hat sie auswendig gelernt. Kann sie noch. Fallen ihr immer wieder ein:
Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Warum bin ich nicht umgekommen,
als ich aus dem Mutterleib kam?
Warum hat man mich auf den Schoß genommen? Warum hat man mich an den Brüsten gesäugt?
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Dann läge ich da und wäre still.
Dann schliefe ich und hätte Ruhe.
Da stand Hiob auf und zerriß sein Kleid und schor sein Haupt und fiel auf die Erde und neigte sich tief und sprach: Ich bin nackt von meiner Mutter Leib gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen; der Name des Herrn sei gelobt!
Und wie nach und nach das Stampfen aufhörte, das Schlagen, das Schreien. Still. Und sie nach dem zaghaften Klopfen des Pastors den Schlüssel hörten, die Tür, und wie der Pastor hineinging.
Daß die Mutter vor der Treppe, in sich gesunken, kniete, bemerkten sie dann erst.
- Cilla, Cilla!
Erich steht vor ihr. Ein Geschenk in der Hand. Neben ihm ein Mädchen.
- Komm.
Im Fernsehzimmer legt sie das Geschenk zu den anderen.
- Dich kenn ich noch gar nicht, sagt sie und gibt dem Mädchen den Kuchen.
- Vom neuen Hof. Außerhalb,
sagt das Mädchen, und:- vielen Dank!
Sogar die neuen, denkt Cilla. Der Lehrer hat einen Namen im Dorf.
Ab jetzt will sie aber nicht mehr träumen, wird sie ein Auge auf die Hochzeitstafel haben. Wie Oma
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Ney Opa Ney mit ihrer Serviette vom dunklen Anzug die weiße Blumenkohlsauce wischt, sieht sie.
- Er ist zu aufgeregt! hört sie Oma Ney zum Pastor:
- Alles zuviel für ihn heute. Der Autozusammenstoß, wir sind mit ihm
- sie zeigt auf den Diersdorfer Walter - gefahren. Er hat uns abgeholt. Die Raserei! Und dann die Hochzeit. Die vielen Leute. Das ist er nicht mehr gewohnt.
Daß Opa Ney an dem Gespräch nicht teilnimmt, scheint den Pastor zu wundern. Er lehnt sich zurück, schaut zu Opa Ney.
- Nein, nein, er hört das nicht,
sagt Oma Ney.
Tut er ihr leid, der Opa Ney! Wie ihr Vater, wenn die Mutter, die immer dafür schon ein besonderes Tuch bereitliegen hatte, ihm Essensreste aus dem Mundwinkel wischte, von der Jacke, der Hose, und er sich schämte. Deshalb auch nicht mehr mit Fremden sein wollte. Feiern und Feste sowieso mied. Ein verbitterter Mann. Seinen Schritt, wenn er die Treppe hinaufstieg, durch den Flur, sogar auf der Straße, glaubt sie heute noch hören zu können. Am Stock: ein gebrochener Mann. Drei Söhne und zwei seiner Schwiegersöhne waren in Rußland geblieben. Einer nur war zurückgekommen. Vier gefallen, was heißt gefallen: Volltreffer,
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Genickschuß, verblutet, im Lager verhungert, wie sie erfahren haben, und einer bis heute vermißt: ihr Mann. Vermißt, was das heißt, weiß nur der, der es erlebt hat. Immer die Hoffnung. Noch nicht zu spät. Und der Funke wird immer kleiner. Nein, nie zu Ende. Oft, muß sie zugeben, hat sie es sich gewünscht: Gewißheit. Gefallen, wenigstens das Foto vom Grab, der Hügel, das Kreuz, da ruht er in Frieden, auch wenn es in "fremder Erde" war, wie es hieß. Aber vermißt! Noch Jahre, nachdem der Krieg schon vorbei war, das Bangen, wenn Briefe kamen. Vom Roten Kreuz. Absagen: Leider ... So fingen sie meistens an. "Unsere Bemühungen ... leider ..." Und dann die Heimkehrertransporte. Immer am Bahnhof.
Nicht einmal, ihn dort zu finden, das war hoffnungslos, sondern einen vielleicht, der etwas wußte von ihm: lebt er noch, ist er gefallen: Gewißheit. Nichts. Und die Schwestern und Schwägerinnen schon aufgehört hatten, in den Gesichtern ihrer Kinder den Mann zu suchen. Aber, da ist sie froh: sie hat kein Kind bekommen.
- Pierre, was soll das?!
Das ist Leonies Stimme. Aber Pierre steht schon hinter seinem Stuhl. - Du natürlich auch.
Was Pierre macht, macht Paul nach. - Setzt euch hin. Beide. Los!
- Ich muß mal.
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- Ich auch.
- Ihr setzt euch beide wieder hin!
- Wenn sie aber doch müssen!
- Klar, daß du zu den Kindern hältst, schimpfte Leonie jetzt mit Robert.
- Dürfen wir?- Nein, ihr bleibt hier.
- Aber, wenn die Kinder doch müssen! sagt Grand-pierre und erhält von Thérèse einen Rempler.
- Gut, schon gut. Haut ab!
Lenkt Leonie ein.
Und schon sind die beiden draußen.
- Und ich?
Aber der Diersdorfer Walter hält Jacqueline fest.
- Du bleibst.
Ein Glück: kein Kind. Denn auch nach dem Krieg war der Krieg noch nicht aus. Der Vorort vermint. Die eigenen Leute, hatte die Mutter gesagt: beim Rückzug. Dem Feind sollte es schwer gemacht werden. Die Felder übersät mit Minen, hinter Haustüren, unter Stiegen, in die Schubladen der Schränke gelegt. Viele, die den Krieg überlebt hatten, überlebten die Nachkriegszeit nicht. Mitten im Tag die Detonation. Durch den Vorort die Schreckensbotschaft: wieder einer auf eine Mine getreten. Hochgegangen. In Stücke gerissen. Vor allem auch Kinder. Mit Munition gespielt, das Gesicht verbrannt, die Hände ab, Auge aus. Die
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Angst ihrer Schwestern, der Schwägerinnen, wenn eins von den Kindern zu spät nachhaus kam!
Und der Tag, sie war in der Küche, Kartoffeln schälen half sie, als die Wucht der Detonation das Küchenfenster eindrückte - das ist ganz in der Nähe, sagte der Vater -, und sie hinauslief, und die Nachbarn schon wußten, in der nächsten Straße, das Trümmergrundstück, eine Bombe, und dort schon Leute standen, nichts war zu sehen, nichts, nur dünner Staub, und die Leute schon wieder gehen wollten, als Oma Ney plötzlich sagte: Ewald, unser Ewald! und auf das Trümmergrundstück zuging, "Vorsicht, da kann noch eine Bombe sein", nicht zu hören schien, sich bückte, ein Stück kariertes Hemd hochhob, mit diesem zurückkam, Ewald, unser Ewald! sagte und dann zusammenbrach.
Aber, das war noch nicht alles gewesen. Hiob trifft auch auf Oma und Opa Ney zu, sagt Cilla sich. Nach dem Tod des einzigen Sohnes die Tochter. Clara, Erichs Mutter. Im Kindbett gestorben bei Erichs Geburt. Lange hat es gedauert, hat sie vom Lehrer erfahren, bis Opa Ney Erich als Enkel annahm. Obwohl Erich die erste Zeit mit den Großeltern lebte. Denn der Lehrer ist Witwer geblieben.
- Komisch, keiner, den sie kennt, hat nach dem Krieg nochmal geheiratet. Weder der Lehrer noch ihre Schwestern, noch eine der Schwägerinnen.
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Auch sie nicht. Obwohl, so schön wie die anderen Frauen, die damals heirateten, waren sie auch gewesen. Und der Lehrer hätte beim Männermangel der Nachkriegszeit genug Chancen gehabt. Aber aus dem Vorort hat er sich damals versetzen lassen aufs Dorf.
- Hierher! Hört sie Rosa.
Jetzt hat sie schon wieder verträumt! Dabei, sie wollte beim Abtragen helfen.
- Ah!
Das gilt dem Nachtisch, den Martha jetzt an den Tisch bringt.
- Wie früher. Wirklich, wie früher. Bravo! ruft der Lehrer. Und Erich und Jeanne und jetzt auch die anderen: Bravo! Bravo! Rosa wird rot. Und Martha strahlt.
Das Lob ist auch verdient.
- Diese Farben! Bitte noch nicht verteilen! Gauthier macht das Foto.
Aus der Fischform der Fisch. Aus Pudding. Dreifarbig. Unterteil, Mitte und Rücken in jeweils verschiedenen Farben: Rosarot, Braun und Hellgelb. Dreifach auch der Geschmack: Erdbeer, Schokolade, Vanille. Wie früher.
- Ein christliches Symbol, der Fisch.
Endlich hat auch der Pastor etwas gesagt.
- Und was für eins!
Um Gottes willen, nur keine Spitze jetzt! Sie kennt
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das von Erich. Aber der Pastor nickt:
- Das Geheimzeichen der ersten Christen, der Fisch.
- Ho Ichtüs. Auf griechisch: der Fisch.
I für Iäsos,
CH für Christos
T für Theos
ü für Hüos
S für Sotär
Jesus
Christus
Gottes
SohnRetter
Alle lachen. Auch der Pastor. Denn der Orgelspieler und Erich haben das aufgesagt wie in der Schule. Gemeinsam. Im Chor.
- Sechs Jahre Griechisch, neun Jahre Konvikt, neun Jahre Religionsunterricht. Da bleibt schon was hängen:
Lacht der Orgelspieler.- Und wenns nur ein Fisch ist. Aus Pudding.
Das hätte Erich nicht sagen müssen. Der Pastor lacht auch schon nicht mehr. Lange ist es her, daß Cilla Pudding, so gemacht, gegessen hat. Noch nicht, seit sie hier ist im Dorf. Zuhaus noch. Vor dem Krieg. Nach dem Krieg, die erste Zeit, als alles knapp war, ist Pudding das letzte gewesen, an das einer beim Essen gedacht hat. überhaupt etwas zu
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essen zu haben. Wieweit sind sie oft gegangen, eine Tüte Mehl, ein Säckchen Kartoffeln, eine Kante Speck, zwei, drei Eier zu bekommen. Kaum zu glauben heute für sie: an einem Tag sechzig Kilometer zu Fuß! Aber sie waren damals noch jung. Und der Hunger trieb. Mützchen hatten sie gestrickt aus sie weiß nicht mehr wo und womit erstandener Wolle, bunte Kindermützchen zum Tauschen. Die Schwestern, die Schwägerinnen, sich sieht sie noch im notdürftig hergerichteten Elternhaus im Vorort um den Küchentisch sitzen und stricken. Eine kleine Fabrik, hat der Vater einmal scherzhaft gemeint: eine richtige kleine Fabrik. Abwechselnd sind sie dann über Land gezogen. Im Rucksack die Wollmützchen für die Kinder der Bauern. Damit ließ sich manches eintauschen. Sie hat diese Tauschtouren immer gehaßt. Gehaßt, anzuklopfen, der wievielte oft an einem Morgen schon, von der Bauersfrau abschätzig betrachtet, und, wenn diese jung war, deren heimlichen Triumph zu spüren, die Herablassung oft, mit der sie dann abgefertigt, weggeschickt wurden. Eine der Schwägerinnen nahm ihre Kinder mit, das brachte mehr ein. Aber weder hatte sie Kinder, noch wollte sie die Kinder der Schwestern und Schwägerinnen, oft genug angeboten, ausleihen, um bei den Bauern Mitleid zu schinden. Aus dieser Zeit noch hat sie ein Mißtrauen gegen die auf dem Land, die Leute vom
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Dorf. Aufgewachsen in einem Vorort der nahen Kleinstadt. Dicht an dicht dort die schmalen Häuser der Hütten-, der Grubenarbeiter. Wie ihr Vater, die Brüder, die Schwäger, ihr Mann, die Bekannten, die Nachbarn: kleine Leute, die kleinen Leute, sagte ihr Vater, die immer herhalten müssen. Dort hatte sie sich wohlgefühlt.
Um so verwunderter waren alle, die davon erfuhren, daß sie aufs Dorf gehen wollte.
Den Haushalt führen. Sie selbst war über sich erstaunt, so schnell auf die Zeitungsannonce geantwortet, so schnell dem Lehrer dann zugesagt zu haben. Gut, er war aus demselben Ort, sie kannten sich schon von früher her. Wenn auch nur flüchtig. Besser gekannt hatte sie seine Schwiegereltern, Oma und Opa Ney. Nur eine Straße weiter als ihr Zuhaus. Aber der Grund, sie weiß ihn bis heute nicht ganz, war vielleicht "Witwer mit Kind" gewesen. Mit ihr zusammen eine Familie. Auch wenn Erich dann ins Konvikt ging. Auch wenn der Lehrer bis heute noch "Cilla, Sie" zu ihr sagt, und, sie kann sich noch an das Gemunkel im Dorf, Thérèse ist daran nicht unschuldig gewesen, erinnern, er ihr nie einen Antrag gemacht hat. Auch wenn sie von denen im Dorf nicht aufgenommen, nur angenommen worden ist, weiß sie, fühlt sie sich wohl hier. In diesem Haus. Diesen Räumen. Ihre große Küche, das Fernsehzimmer zur Straße hin, das Bücherzimmer, oben das Zimmer des Lehrers,
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Erichs Zimmer und ihres. Vor allem aber die ehemalige Scheune, umgebaut, das Bücherzimmer, der große Raum ist ihr lieb. Meine Bibliothek, sagt der Lehrer, treffen wir uns in meiner Bibliothek. Einmal in der Woche kommen sie dort zusammen. Aus dem Dorf, aus den umliegenden Dörfern, auch schon mal jemand aus der nahen Kleinstadt. Und sitzen dann um den großen Tisch bei Bier oder Wein und Most und Schnaps, geräuchertem Schinken, Schmalzbroten, Gurken, und reden. Erzählen von früher, von heute. Wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. In Mundart die meisten. Und der Lehrer nimmt alles auf. Auf Band. Meine Arbeit, sagt er. Nach dem Herzinfarkt - sie vermutet immer noch, auf den Schock hin, als er erfuhr, die Schule im Ort, seine Schule, eine "Zwergschule", wie sie in der Zeitung genannt wurde, werde geschlossen, der Schulbus käme. Noch im Krankenhaus hatte er den Antrag gestellt. Auf Pension. Frühpensioniert. Seitdem seine Arbeit: alles zusammenzutragen, was über diese Gegend, die Landschaft, die Leute, wie sie lebten, wie sie leben, geschrieben, gemalt, gesungen, erzählt worden ist und noch wird.
Mein Heimatmuseum.
Da ist alles drin. Hat er vor kurzem voll Stolz einem Herrn aus der nahen Kleinstadt gesagt: Bücher, Zeitschriften, Ordner mit Zeitungsausschnitten, Fotos, Tonbänder, Filme und sogar,
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ganz neu, was er vom Fernsehen aufnehmen und wieder abspielen kann, die Bänder.
Daß Erich das weitermacht, hofft der Lehrer. Ausbaut, sagt er.
Auch wenn die beiden oft uneins sind, über Kleinigkeiten sich häufig streiten, ihretwegen Zwetschen Zwetschgen sein lassen könnten: sie sind aus demselben Holz.
Die beiden wollen dasselbe, wenn auch auf verschiedenen Wegen, erreichen, denkt sie oft. Wenn Jeanne nur nicht quertreibt! Jeanne will weg. Das weiß sie. Wie stark Erich ist, weiß sie nicht.
- Wir wollen danken für unser Brot. Wir wollen helfen in aller Not.
Wir wollen schaffen; die Kraft gibst du. Wir wollen lieben; Herr, hilf dazu.
- Amen.
Das stört sie an Erich. Daß er jetzt grinst, während der Pastor das Gebet nach dem Essen spricht. Niemand verlangt von ihm, mitzubeten. Aber Grinsen, das muß doch nicht sein! An seiner Hochzeit. So sehr sie ihn mag, aber über Gott und die Kirche, wenn er darüber seine Witze macht, stößt er sie ab. Dann ist sie froh, nicht seine Mutter zu sein. Dann versteht sie den Lehrer, der auf den Tisch schlägt, sich das verbittet. Der Lehrer ist auch kein eifriger Kirchgänger, und nicht, daß sie wüßte, übermäßig fromm, aber er achtet die, die das tun und sind.
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Der wird wieder beten lernen, hat einmal der Lehrer, Erich war wütend weg, zu ihr gesagt: das macht schon das Leben.
Und Jeanne, hofft sie.
Daß Beten hilft, glaubt sie fest.
Das hat sie mehr als einmal in ihrem Leben erfahren. Im Krieg, nach dem Krieg. Wenn der Vater, trotz seiner schweren Behinderung, auf einen Schemel gestützt, auf dem Küchenboden kniete mit ihnen zum Rosenkranzbeten.
Und sie sich danach ruhiger fühlten, getröstet. Ohne Gebet kann sie sich keinen Tag denken. Der Lehrer redet oft tagelang wenig. Dann redet sie mit sich selbst. Laut. Wenn sie allein ist. Oder betet. Redet mit Gott. Unglaublich, hat Erich gelacht, als sie ihm, zu dumm, erzählt hat, daß sie ihn in ihre Gebete miteinschließt. Tag für Tag. "Unglaublich." Das hat ihr weh getan, wie er gelacht hat. Auch wenn sie es ihn nicht hat merken lassen.
Auch für heute, für seinen Hochzeitstag, hat sie gebetet. Daß alles gut geht.
- Gutgegangen.
Bis jetzt.
Gott sei Dank!
Alles gutgegangen
sagt sie.

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