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Die Leidinger Hochzeit
 

KAPITEL IV

Ein Maitag ist ein
kategorischer Imperativ der Freude.

(Hebbel, Tagebücher, 1. Mai 1838)
 

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Zwischen zwei Wolkenbänken plötzlich die Sonne.
Guter Gott, merkt man ihm das schon an?
Und er bleibt stehen.
Zieht sich die Baskenmütze vom Kopf.
Wenn irgendein Mensch hundert Schafe hätte, und eins unter ihnen sich verirrte:
läßt er nicht die neunundneunzig,
geht hin und sucht das Verirrte?
Und wenn sich's begibt, daß er's findet,
er freut sich darüber mehr als über die
neunundneunzig, die nicht verirrt sind.
Auch das ist ihm kein Trost mehr in letzter Zeit. Die Zweifel, seine Zweifel, so deutlich ihm schon ins Gesicht geschrieben, daß Erich Hautz, nach einem Gespräch nur, ihm so einen Spruch zuschreiben kann:
- Gott hat uns nicht geschaffen,
um uns zu verlassen. Michelangelo.
Liest Pastor Claude Vigy laut.
Atmet tief.
Und geht weiter
zwischen den Zwetschgenbäumen den Hügel hinauf zum Pfarrhaus.
*
- Suchst du was ?
- Ja.
- Mitten auf der Straße.
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- Ja.
- Was denn?
- Meinen Charly Brown.
- Wen?
- Meinen Charly Brown.
- Ne Puppe?
- Nein.
- Was dann?
- Meinen Hüpfstein.
- Aha. Komm, mach die Straße frei!
- Nein.
- Sollen wir dir helfen!?
- Nein.
- Also, geh von der Straße runter!
- Ihr könnt nur Häuschenmänner überfahren!
ruft Jacqueline dem grauen VW-Bus nach, den Männern vom Zoll.

*
- Weißt du noch, das Präservativ über dem Türgriff?
- Und ob.
- Von Herrn Konviktsdirektors Zimmer persönlich.
- Und wie er sich aufgeregt hat! Beim Mittagessen. Mitten im Essen. Die Speisesaalglocke. Und Ruhe. Wer hat das Ding
- Das Ding. Typisch.
- Wer hat das Ding dahingetan! ? Der meldet sich

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sofort nach dem Essen. Sofort!
- Mit seiner Eunuchenstimme.
- Dafür kann er nichts.
- Wer weiß, wer weiß. Das Ding!
- Und was das Schlimmste ist: gebraucht! Schon in Gebrauch gewesen. Hat er in kleinem Kreis gesagt.
- Nie herausgekommen, wer es war. Du sicher nicht.
- Nein. Den Mut hab ich nie gehabt.
- Ich leider auch nicht.
- Hätte ich heute noch nicht.
- Ich weiß nicht.
Sagt Erich.
- Ich schon.
Sagt Issi und schnippt die Zigarette in die Toilette.

*

Das Alter macht nicht kindisch,
wie man spricht. Es findet uns
nur noch als wahre Kinder. (Goethe)
Recht hat er. Recht hat er. Sieht sie Grand-pierre und Pierre zusammen, weiß sie oft nicht, wer mehr Kind ist von den beiden. Und sie stellt das Kärtchen wieder an Grand-pierres Platz.

Die Arbeit ist etwas Unnatürliches.
Die Faulheit allein ist göttlich.
(Anatole France)

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Oh! Durchgestrichen. Aber Gauthier! Der scheint keinen Spaß zu verstehen. Oder ist es ihm etwa Ernst?

Für Madeleine Fontaine.
Die Mode ist weiblichen Geschlechts,
hat folglich ihre Launen.
(Weber)
So ohne sind die Sprüche nicht. Das hat Georges gut gesagt: Jeanne und Erich haben sich was gedacht.

Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden. Man muß sie auch gehen lassen.
(Jean Paul)
So, wie es aussieht, ist Pierre sehr locker erzogen. Denkt sie und stellt mit spitzen Fingern das puddingverklebte Kärtchen wieder zurück.

Leonie: ihr Kärtchen fehlt. Sie wird sie danach fragen.
Ein winziger Papierflieger! Paul. Aus allem wird ihm etwas zum Fliegen. Auseinandergefaltet:
Ein Kind ist ein Buch,
aus dem wir lesen und
in das wir schreiben sollen.
(Peter Rosegger)

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Liest Thérèse laut, setzt sich an Pauls Platz, schließt die Augen - und nickt.

*

- Jetzt. - Ja: So siehst du aus wie diese Filmschauspielerin.
- Welche?
- Namen behalte ich nie.
- Ist sie noch jung?
Ja, doch.
Hübsch?
- Wie man's nimmt.
Danke.
- Sie hat was. Sie kann alles spielen. Sie ist nicht, nicht festgelegt.
- Welcher Film?
- Viele.
Einen, nenn mir nur einen.
- Titel behalte ich auch nie.
- Den letzten.
- Der spielt in Afrika.
- In Afrika?
- Ja.
- Und was spielt sie da?
- So ein kleines, verdorbenes Eheweib, das es mit einem anderen treibt, aber unschuldig aussieht.
- Danke.
- Sie ist wahnsinnig gut. Ich mag sie.
- Naiv und berechnend.

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- Genau.
- Wie ich.
- Nun komm!
- Ich weiß es.
- Was?
- Wie sie heißt.
- Und?
- Sie hat deinen Namen.
- Komm!
- Doch. Deinen Namen. Vornamen.
- Kann sein.
- Ist so.
- Noch was. Was soll das:
Das Sehnen nach Liebe
ist selber Liebe.
Jean Paul.
Liest Isabelle ihr Tischkärtchen vor.
- Ist so.
Sagt Jeanne und hängt das Hochzeitskleid auf.

*

- Du kommst von da.
- Wo?
- Von da.
Ich von hier.
Weiter.
Noch weiter.
Stop.
Noch nicht.

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Ich gebe das Zeichen.
Achtung - fertig - los!
Kommt das eine von da, das andere Auto von hier.
Fahren sie aufeinander zu.
Das eine dem anderen in die Seite.
- Nochmal!
Sagt Pierre.
Und Paul schiebt sein Tretauto wieder auf "los".

*

Wir waren einmal auf einer Kindstaufe. Bei einem Bauern. Ein großer Hof. Ein gutes Stück vorm Dorf. Dazwischen noch viel Wald und Hügel. Der Bauer wollte zeigen, wer er ist und was er hat. Die Küche - doppelt so groß wie die hier, wenn nicht noch größer. Für an die hundert Gäste sollten wir vier kochen. Wie früher. Und nicht nur Essen, Trinken, Tanzmusik wie früher, nein, auch der Weg zur Kirche sollte so sein. Deshalb hatte der Bauer, weiß ich woher, ne Kutsche ausgeborgt. Herrichten lassen. Und zwei Pferde vorgespannt. Zur Taufe sind dann der Bauer, die Bäuerin mit dem Täufling, der Pate und die Patin in der Kutsche losgefahren. Spätsommer war's. Und blauer Himmel, als sie losgefahren sind. Noch keine Viertelstunde später: der Himmel gelblich schwarz. Gewitterwind. Ein Glück, die Kutsche hat ein Klappdach, sagt ein Gast. Kein Donner, Blitz, kein Wolkenbruch. Nichts. Nur der Wind

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und der gelb-schwarze Himmel. Von wegen Glück. Wir warten, warten. Endlich kommen sie. Der Bauer, die Bäuerin mit dem Täufling, der Pate und die Patin. Zu Fuß. Und wütend. Die Kutsche mit den Pferden steht im Wald, sagt uns der Pate. Die Pferde, wie verhext, hätten plötzlich angehalten. Und keinen Zentimeter weiter mehr gegangen. Weder mit Zucker, gut Zureden, noch mit Schlägen, Tritten. Mitten im Wald. Mitten zwischen Hof und Dorf. Zu weit, noch rechtzeitig zur Taufe da zu sein. Also zurück. Diese verfluchten Pferde! Kaum sagt er das, da hören wir ein Krachen, Scheppern, wie Holz, wie Eisen über Stein. Wir rennen raus. Und vor der Türe steht die Kutsche. Die Pferde Schaum vorm Maul. Die Kutsche mit drei Rädern. Nichts. Nur die Angst vor dem Gewitter! Pferde sind eben Pferde. Wie früher. Lacht Anna, und Leonie, Maria, Martha, Rosa lachen mit.

*

- Weißt du noch, hinterm Konvikt auf dem Sportplatz das Wespennest!
- Nein.
- Du hast auch nie Fußball gespielt.
- Aber Orgel.
- Mitten im Spiel gingen sie los. Auf den Dicken. Du weißt doch, Pferd haben wir ihn genannt.
- Wie der Film.

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- Was?
- Wie der Titel des Films.
- Egal. Der stellte sich hin, der Dicke, preßte den Hintern zusammen, hart wie ein Stein. Jeder hatte zehn Tritte frei.
- Ich nicht.
- Du hast auch nie Fußhall gespielt.
- Nur Orgel.
- Auf den sind die Wespen geflogen. So schnell war der Dicke nie mehr.
- Und?
- Nichts.
Sagt Erich.
- Auch gut.
Lacht Issi und tritt die Zigarette ins Blumenbeet.

*
Die Tür
wie sie aufgeht
Der weiße Kittel
Das schwarze Bild
- Foto? -
hält er vor sein Gesicht
steht jetzt an ihrem Bett
sieht schlecht aus
sagt er
sieht schlecht aus
zeigt ihr die Fotografie: sie

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hr Mann
Träumt Elis in Cillas Bett

*

Arbeit gewinnt
Feuer aus Steinen
(Alter Spruch)
Den sollte Robert sich abschreiben. Auf die Hand. Wenn sie wieder aus den Feldern Steine raffen, und vom vielen Bücken der Rücken brennt.

Das muß sie nochmal lesen. Den lernt sie. Der ist nicht nur für Yvonne:
Eine gescheite Frau hat
eine Million geborener Feinde:
alle dummen Männer.
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Das kann nur von einer Frau sein. Den wird sie auch gebrauchen, diesen Spruch.

Mal sehn. Ihr Georges. Was da steht:
Auf zwei Rädern die Welt rollt:
das eine ist die Liebe, das andere Gold.
(Jacoby)
Naja, zur Zeit stimmt es bei ihm. Scheint es. Aber Achsenbruch kennt Georges auch.

Ah! Zerknüllt. Marie hat ihr Kärtchen zusammengeknüllt. Sie war Jacques auch sehr böse, ihren Spruch allen vorzulesen.
 
 

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Schau an:
Für Jeanne von Erich.
Die ursprüngliche Heimat ist eine Mutter.
Die zweite eine Stiefmutter.
(Russ. Sprichwort)

Und:
Für Erich von Jeanne:
Erst im Auslande lernt man die Reize
des Heimatdialekts genießen.
Erst in der Fremde erkennt man,
was das Vaterland ist.
(Gustav Freytag)
Jeanne will weg. Das ist nicht neu für sie. Aber Erich scheint hierbleiben zu wollen, liest sie aus seinem Kärtchen für Jeanne. Man wird sehen. Die Frauen sind immer stärker, schmunzelt Thérèse. Das weiß sie.

*

Die Mühle.
Das Lothringerkreuz im Stein an der Hauswand.
Die Weiden zeigen: da wäre der Bach.
Hochwasser hier bis weit in die Wiesen.
Die Brücke.
Am Brückenpfeiler das Auto.
Die Wellblechkiste zusammengedrückt auf die Hälfte. Wahrscheinlich aus der Kurve getragen. Wer da mitfuhr, fährt nie mehr.

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Sofortbild.
Für die beiden Verrückten von heute morgen, sagt der Fotograf laut und schaut sich um.

*

Wir waren einmal zu einer Kommunion zum Kochen. In der Stadt. Bei "besseren Leuten", wie es hieß. Eine Wohnung wie aus dem Bilderbuch, aber mir ist meine lieber. Schont bitte die Möbel, und aufpassen hier und aufpassen da. So ging das zu. Madame hat ein Theater gemacht und sich aufgeführt! Wie vor hundert Jahren kam man sich vor. Dabei, was war er, bei der Regierung irgendein hohes Tier. Diener des Volkes, von wegen: die Herren! Und alles von unserem Geld. Wir bezahlen. Daß die sich so aufführen können. Uns behandeln wie Personal, von oben herab. Einmal, nie wieder, haben wir vier uns geschworen. Und kleinlich, als es an das Bezahlen ging! Um jeden Pfennig hätte Madame gekämpft. Bessere Leute. Von wegen. Der Junge hat mir leid getan. Das Kommunionkind. Brav dasitzen. Zuhören, was die feinen Herrschaften so von sich geben. Gelangweilt hat er sich. Das hab ich ihm angesehen. Keiner hat sich um ihn gekümmert. Und, wie das bei besseren Leuten ist: keine Kinder. Der Kleine war das einzige Kind. Nach dem Essen durfte er in den Garten. Aufpassen, nicht schmutzig machen, dein Ehrentag, und was Madame dem ärmsten

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alles so mitgab. Wir tragen ab, waschen auf. Zufällig schaue ich aus dem Küchenfenster. Mir ist der Teller fast aus der Hand gefallen. Ich seh das noch vor mir: wie der Junge dasteht, bleich wie der Tod, und hält die eine Hand ausgestreckt. Mitten durch die Hand, ihr seid Zeugen, ihr habt's gesehen, mitten durch die Hand steckt ihm ein Stück Draht, durch und durch. Der Junge schreit nicht, sagt nichts, steht nur da. Starr. Ich raus - und, das war das Verrückteste: kein Blut, nichts. Der Draht, durch und durch und kein Tropfen Blut - rein mit dem Jungen. Madame sieht ihn, schreit, da, mir ist fast speiübel geworden, da schießt aus der Hand das Blut. Und, fast wäre ich aus der Rolle gefallen, schreit Madame wieder: Vorsicht, die Biedermeierstühle!
"Scheißdreck in Goldpapier", hat mein Mann gesagt, als ich ihm das erzählt hab. Und er hat recht, sagt Maria, noch ganz erregt.

*

Das läßt sie nicht mehr los. Wie sehr sie sich wehrt. Einmal in einem Film gesehen. Immer wieder. Wie eine Ameisenstraße. Endlos die Reihe. Bis da, wo das Schneefeld übergeht in den Himmel.
"Rußland ist weit. Darin verliert man sich. Eine alte Geschichte."
Die Menschenkette bewegt sich ganz langsam, nur muhsam vorwärts.

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Die Köpfe mit Lumpen vermummt, nur noch die Augen frei, Lappen um die Füße gewickelt, in Fetzen die Mäntel: die Kriegsgefangenen.
So viele Männer: Väter, Söhne und Brüder.
Auch ihr Mann?
Das wird sie nicht los.
Wie der Zug der armen Seelen ins Fegefeuer, denkt Cilla, aber da wenigstens aus der Kälte ins Warme, dann ins ewige Licht.
Und sie öffnet das Fenster.

*

- Das sind doch Welten!
- Wieso?
- Ein Blinder sieht das.
- Ich bin nicht blind.
- Hier auf der Straßenseite: neugebaut und frischverputzt und Glasbausteine. Da, auf der anderen: die alten Häuser, von denen bröckelt, blättert alles ab.
Hier Doppelfenster, Rolläden und Leichtmetall. Da gegenüber hängen morsche Fensterläden aus den Angeln.
Hier betoniert und ausgekehrt. Da drüben Mist, ein Autowrack und Gras und Büsche, Wildwuchs vor der Tür. Hier Mäuerchen, exakt gezogen. Da, schau nur, wie die Mauer aus Naturstein auseinanderbricht und Moos und Unkraut wuchern in und aus den Fugen.

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- Was ist dir lieber?
- Mir? So einfach ist das nicht. Sagt Georges zu seiner Frau.
Fürs Auge sicherlich die Seite mit den alten Häusern. Da bin ich aufgewachsen. Aber auch da wohnen? Ich weiß nicht. Komm, gehn wir weiter!

*

Der Lehrer gleiche nicht einem Raubvogel,
der Eier aus einem Nest holen will,
worin noch keine gelegt sind.
(Pestalozzi)
Ruft Philipp Hautz quer durch den Raum und winkt ihr mit seinem Tischkärtchen zu und lacht. Oder faule, oder Kuckuckseier, sagt sie sich.

Komisch. Ein unbeschriftetes Kärtchen auf Elis Platz, der Frau des Fotografen, Erichs Patin. Doch. Nur innen nach außen geknickt. Jetzt:
Der Mann glaubt zu wissen,
aber die Frau weiß es besser.
(Chinesisches Sprichwort)
Nicht dumm, die Chinesen, nicht dumm.

Beim Fotografen fehlt das Kärtchen. Vielleicht macht er gerade draußen ein Foto von sich mit Kärtchen und Kopf.
Jetzt kann sie einige Plätze überspringen. Die Kärtchen kennt sie schon.

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Mensch, wirst du nicht ein Kind,
so gehst du nimmer ein,
wo Gottes Kinder sind,
die Tür ist gar zu klein.
(Angelus Silesius)
Für Jacqueline hätte das heute morgen bitter wahr werden können. Diese beiden Narren mit ihren Autos. Da hat das Kind Glück gehabt. Sonst wäre es eingegangen durch die kleine Tür, wo Gottes Kinder sind.

Mit Naserümpfen übergeht sie den Platz von Jacquelines Vater. Ein Narr, der Diersdorfer Walter. Der hat sein Fett. Murmelt sie.
Auch Isabelles Kärtchen fehlt. Wer weiß, wer weiß, was darauf steht ...

Nur noch Oma und Opa Ney und das Kärtchen des Herrn Pastor. Aber, so hat sie gesehen, der hat es lange in der Hand gehalten, betrachtet, nichts gesagt, dann eingesteckt. Ob er es wieder hingelegt hat?
Nein. Da liegt kein Kärtchen.
Das Alter wägt und mißt es.
Die Jugend spricht: so ist es.
(Platen)
Für Opa Ney.
Ein junges Alter ist gut.
Eine alte Jugend taugt nichts.

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(Sprichwort)
Für Oma Ney.
Was das bedeuten soll? Ob Oma Ney das herausbekommen hat. Sie selbst, aufs erste Lesen versteht sie das nicht. Aber, man muß nicht alles verstehen. Sagt Thérèse und für sich.

*

Die Decke
wie sie laufen dünner dicker
die Risse
auseinander
zusammen
sich treffen
Beine könnten so sein
dann weiter der Leib
ohne Arme
der Kopf
keine Arme der Körper
Elis blinzelt, bis sich die Beine bewegen, der Kopf.

*

- Weißt du noch, einmal im Monat die Oper.
- Mit dem alten VW-Bus hin. Ohne Konviktsdirektor. Das war das beste dran.
- Großstadt. Große Oper!
- Große Oper! Steht einer da und singt: ich gehe, ich gehe!
- Du bist aber immer mitgefahren.

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- Doch nicht wegen der Oper. Zugabe war die.
- Für dich.
- Für die meisten.
- Leider.
- Leider? Du bist doch nachher auch mitgegangen.
- Und?
- Also.
- Aber mich hat vor allem die Oper gereizt.
- Aber nachher Nutten kucken doch auch!
Sagt Erich.
- Schon.
Murmelt Issi und wirft den Stummel über die Straße.

*

- Hej! Schau mal:
Zündhölzer eine Schachtel,
zwei Kerzen,
Bindfaden eingeknäuelt,
ein Bleistiftstummel,
ein Notizblock,
Briefmarken zu sechzig und zu achtzig Pfennigen, irre!
ein Zehnmarkschein,
ein Zehnfrancschein,
Sicherheitsnadeln drei aneinandergehängt
verschieden groß,
ein rotes Messer mit silbernem Kreuz drauf,

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ein Taschenspiegel rund,
Kreide ein Stückchen,
eine Trillerpfeife,
Klebstreifenrolle durchsichtig,
Klebstreifenrolle blau,
echt irre!
Verbandstoff eine Rolle,
eine Packung Tempotaschentücher,
Tabletten gegen Kopfschmerzen,
ein Tigerbalsamdöschen,
Heftpflaster verschiedene Formen,
Schuhriemen schwarz ein paar,
die Nadel steckt im Zwirn,
Mann, endlich! Die Schere!
Sagt Äinschi und packt alles wieder in das Blechkästchen, auf dem "Crêpes à dentelles, les délicieuses, marque deposée, Tanguy" in Gelb und Weiß auf Blau geschrieben steht. Und wirft es wieder in die schwarze Ledermappe.
- Mein Alter. Sein "Überlebensdöschen", sein Kästchen "Allzeitbereit".
Sagt sie zu Mäck und schnippt schon mit der Schere:
- Hej Mann! Jetzt an die Bürste ran!

*

Wir waren einmal bei einer Hochzeit. Ein bißchen verruckt, die Hochzeitsgesellschaft. Fast nur junge Leute. Aber uns hat es Spaß gemacht, zu kochen

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für die. Alles ganz locker. Uns hat's gefallen. Und denen auch. Von Anfang an schon. Vor der Messe war das Brautpaar, wie üblich, zum Fotografen. Von da bis zur Kirche war es nicht weit. Also sind sie zu Fuß gegangen. Die Leute auf der Straße sind stehengeblieben, haben gegrüßt - und gelacht. Die Hochzeitsgäste in der Kirche, als das Brautpaar feierlich zum Altar schritt, lachten auch. Auch der Pastor, als das Paar nach der Messe wieder feierlich hinausschritt. Von der Kirche bis zur Wohnung war es auch nicht weit. Und da das Wetter mitspielte, spazierte die Hochzeitsgesellschaft zum Haus. Allen voran das Hochzeitspaar. Die Leute lachten hinter dem Hochzeitszug her. Dann kamen sie zur Wohnung. Ich stand, wie immer bei einer Hochzeit, mit dem Tablett mit den Schnapsgläsern an der Tür. Fast hätte ich das Tablett fallen lassen, so mußte ich lachen, als der frischgebackene Ehemann mir den Rücken zudrehte. Da stand er und hatte den Rücken hinunter Wäscheklammern im Anzug! Er sah aus, es gibt so ein Tier mit gezacktem Rücken. Seine Frau hat es schließlich gemerkt, es ihm gesagt, aber auch gelacht. Nach dem ersten ärger, so in der Kirche gekniet, so durch die Straßen gezogen zu sein, auch er. Herauskam: Der Fotograf hatte, damit der geliehene Anzug besser saß für das Foto, den Rücken mit Wäscheklammern gestrafft, sie aber abzumachen vergessen. Und keiner, weder der
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Fotograf, noch einer aus der Hochzeitsgesellschaft, noch der Pastor, noch einer der Leute auf der Straße hat es dem Bräutigam gesagt. Nur gelacht haben alle. Sagt Martha zu Leonie. Ich auch.

*

Ihr Traum: nach Rußland. Die Gräber der Brüder, der Männer der Schwestern. Und wo er ist. Tot oder lebendig Vermißt. Ihr Mann. Einmal dort gewesen zu sein
Ihre Angst: Gottlos sind die. Hassen die Kirche. Verfolgen die Gläubigen. Das hat sie gelesen. Kein Problem, hat der Lehrer gesagt, kein Problem.
Und hat ihr Prospekte besorgt: Flug, Hotel, Dolmetscher, Reisegesellschaft. Und nicht so teuer, wie sie gedacht hat. Auch nicht so weit. Aber, will sie wirklich dahin, fragt sich Cilla und schließt das Fenster.

*

- Paß auf, das ist doch naß!
- Unglaublich!
- Was?
- Hier: der Grenzstein.
- Im Straßengraben?
- Das siehst du doch.
- Und?
- Ein alter Grenzstein. Hier

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- Mach dich nicht schmutzig!
- Ich bitte dich! Schau dir das an: achtzehnhundertunddreifig. Vor hundertfünfzig Jahren ge
setzt. Und jetzt in den Straßengraben geworfen! Unglaublich.
- Paß doch auf! Deine Hose.
- Ich bitte dich. Siehst du, ein D, und hier
- Da hast du's, die Hose!
- Das ist doch nur Lehm. Siehst du, ein F.
Deutschland und Frankreich. Die beiden Seiten.
Und hier oben, die Linie, schräg rüber, der Grenzverlauf. Einfach weg, in den Straßengraben.
- Nun komm schon da raus!
- Schade, daß er so schwer ist.
Sagt Gauthier:
- Aber ein Foto mach ich davon, Madeleine, mit dir.
- Ich bitte dich, doch nicht in dem Dreck!

*

Das Fenster
geschlossen warum nicht geöffnet
nur einen Spalt weit
die Fliege
wie sie surrt
wieder und wieder
gegen das Glas stößt
wie sie als Kinder mit flacher Hand Fliegen verfolgten

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gegen das Glas gedrückt
kurz das trockene Knacken
dann das Innere rausschoß
verschmiert mir die Fenster nicht
hört Elis die Mutter fährt hoch
raus muß sie raus!

*

Rings die Mauern aus Muschelkalkstein.
Mitten in der Wiese: das weiße Pferd.
Diese Ruhe.
Und "Indien", der auf der Mauer sitzt, hebt die Geige aus dem Etui, stimmt sie, beginnt zu spielen. Die Augen geschlossen, sieht er das weiße Pferd, wie es herantrabt, dicht vor ihm stehenbleibt. Er fühlt die Nähe. öffnet die Augen: kein Pferd. Auch nicht in der Mitte der Wiese. Weit drüben füttert es einer. Der kommt jetzt.
- Schön haben Sie gespielt.
Sagt er, und:
- Das Pferd bekommt bei mir das Gnadenbrot.

*

- Mensch, Typ, das ist mein Job! Das reiß ich jeden Tag ab! Jahrelang schon. Hej! Nur keine Angst. Du wärst der erste, dem ein Schnitt von mir nicht paßt. Dafür hab ich 'nen Blick. Dein Kopf, da gibt's nur eins: den Irokesen. Das hab ich auf den ersten Blick gewußt. Hej, Mann, halt still.

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Bleib ruhig sitzen. Scharf sieht das aus. Wo sonst die Nullen ihren Scheitel ziehn, wächst dir jetzt eine Bürste.
Du klopfst den Baß, hast du gesagt. Echt stark. Da steh ich drauf. Das geht so durch und durch. Echt Spitze, wie du aussiehst. Nur noch im Genick. Dann bist du top. Die fallen nachher alle flach, wenn die dich sehen. Wetten?
Und Äinschi bläst die Haare von Mäcks Ohren, schüttelt das Handtuch aus über das Gartenbeet, gibt Mäck noch einen Kuß auf seinen Irokesenschnitt und pfeift dann durch die Finger.

*

- Wegmachen. Ausrotten. Und zwar radikal.
- Weshalb?
- Eine Krankheit.
- Das stimmt doch nicht.
- Doch, doch. Wie die Pest: diese Misteln.
- übertreib nicht.
- Schau dir die Bäume an, auf eurer Seite: Ruinen!
- Du übertreibst. Wir ernten soviel Obst wie ihr. Nicht mehr und auch nicht weniger.
- Aber wie lange noch!
- Solange wie ihr auch.
- Klar. Wenn ihr nichts dagegen macht, können wir machen was wir wollen! Bei euch fressen die Amseln die Mistelbeeren, bei uns da setzen sie sie ab.

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- Wenn Habicht und Sperber besser geschützt wären, nähmen die Amseln nicht so überhand!
- Egal.
- Was meinst du, sollen wir nun machen?
- Abschneiden. Ausmerzen. Mit Stumpf und Stiel.
- Das wäre doch mit Kanonen auf Spatzen geschossen!
- Wieso? Die Bäume gerettet. Schön sauber.
- Wenn die Bäume nicht übermäßig befallen sind, stört sie die Mistel weniger als der Floh den
Hund. Außerdem gehört die Mistel hierher. In diese Landschaft.
Sagt Robert.
- Mich stört sie nicht.
- Aber mich. Und wie!
Gibt ihm Walter zurück.
- Walter, Walter, du hast nur noch Autos im Kopf!
Lacht Jacques.
- Quatsch. Was hat das damit zu tun?
- Viel.
Sagt Jacques.
Sehr viel.
- Schaut mal, der Segelflieger!
Zeigt Grand-pierre:
Wie der pfeift!

*

Wir waren einmal auf einem Leichenschmaus.
Irgendein Anstreichermeister war beerdigt worden.

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Ein häufig vorkommender Name. Ich weiß noch, jemand kam in die Küche und sagte: drei Gedecke mehr! Das kommt vor, daß sich einer verzählt. Obwohl, diese Leute, die führen Liste. Die wissen vorher, wer kommt und wer nicht. Das ist auch gut so. Danach können wir uns dann richten. Also drei Gedecke mehr. Und wie das so geht, auch eine Beerdigungsfeier ist eine Feier. Da wird gegessen, geredet, getrunken. Der Anstreichermeister war nicht mehr der jüngste gewesen. Er hatte seinen Teil schon gelebt. Da fällt die Trauer schnell ab. Und Stimmung kommt auf. Das haben wir oft erfahren. Als müßten die Leute beweisen, daß sie noch leben. Lachen und Weinen ineins. Auf einmal hören wir, da hält einer eine Rede. Auf den Verstorbenen. Bricht ab. Und ein Gelächter, als sei bunter Abend, kein Leichenschmaus. Ich gehe ins Zimmer und frage den, der anfangs in die Küche gekommen war, was los ist. Die drei Gedecke mehr, die sind auf der falschen Beerdigung, sagt er und lacht. Das hätten sie jetzt erst bei der Rede gemerkt. Die seien hier fremd. Abgeordnet. Morgens, in der Eile, hätten sie in der Stadt nur nach dem Friedhof gefragt, nicht auf den Stadtteil geachtet. Und da der Name gestimmt habe, seien sie an das Grab. Gerade noch rechtzeitig, den Kranz niederzulegen. Und jetzt erst, bei der nachgeholten Rede hätten sie gemerkt: sie sind auf der falschen Beerdigung. Nicht beim
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Drucker der Zeitung, von der sie kämen, sondern beim Anstreichermeister mit gleichem Namen. Stadt und Name und Tag und Uhrzeit hätten gestimmt, nur der Friedhof nicht. Aber jetzt seien die drei hier und würden auch bleiben.
Tot ist tot, sagt Rosa, das kratzt nur die, die leben, noch.

*

Viel zu früh. Wenn überhaupt. So ein Geschenk. Vielleicht gar nicht für Jeanne und Erich gedacht? Könnte es sein, daß der Lehrer? ... Aber weshalb so auf einmal? Vielleicht, weil Erich und Jeanne - und er nachzieht. Die Hochzeit auch ihn angeregt hat. Aber woher sollten die drei das wissen? Das Geschenk ist von den Musikern, hat sie gefragt. Wenn sie zurückdenkt, lange ist das her, sie war noch ein junges Mädchen, daß sie mit Töpfen, Deckeln, Schellen und Hupen am Abend losgezogen sind, Charivari schlagen:
"Ein junger Mann, ein altes Weib,
die haben den Teufel feurig im Leib!"
Ins Nachbarsdorf. Eine Witwe hatte wieder geheiratet. Und es gab Schnaps und Schinkenbrote. Völlig in Vergessenheit geraten, dieser Brauch. Aber vielleicht wird er wieder lebendig, wenn der Lehrer ... Das wäre doch eine Gelegenheit, denkt Marie und stößt die Teufelsgeige kräftig auf, daß es vom Fernsehzimmer durch das ganze Haus hallt.

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- "Nachdem der Bräutigam die Nachricht erhalten, daß seine Braut unter Beihilfe ihrer Freundinnen den hochzeitlichen Schmuck angelegt habe, so eröffnet er mit seinen Freunden, unter Vortritt einer Musikbande, den Zug nach dem elterlichen Hause der Braut. Die Thür des letzteren ist bei der Ankunft des Bräutigams verschlossen. Der Zug des Bräutigams macht vor diesem Hause halt. Hierauf öffnet eine alte Frau die Thür' und fragt, was man wolle? Der Bräutigam sagt: ,Ich suche und begehre meine Braut.' Die Alte erwidert mit anscheinender Freude:, Ich bin Ihre Braut.' Da der Bräutigam aber dagegen protestiert, so schließt die Alte auch wieder die Thüre. Die Musikanten spielen von neuem. Nach einer Pause öffnet sich die Thüre wieder, und es tritt ein anderes häßliches Weib hervor. Man sucht die Häßlichkeit durch eine Maske und andere Zuthaten recht auffallend zu machen. Die früheren Fragen und Antworten wiederholen sich, sowie auch die Abweisung und der Thürschluß. Es beginnt die Musik wieder. Endlich öffnet sich die Thüre von neuem, und die geschmückte Braut tritt weinend hervor und hält ein weißes Taschentuch vors Gesicht. Der Bräutigam ruft: ,Ah, es ist meine Braut.' Er schreitet auf dieselbe zu, erfaßt sie bei der Hand und drillt sie, d. h. er hebt seine Rechte und die der Braut hoch und leicht empor und läßt die Braut, gleichsam an seinem Finger, sich dreimal herumdrehen.
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Während die Braut das thut, spricht der Bräutigam: ,Wo ich Mann bin, da bist du Frau, und wo du Frau bist, da bin ich Mann.' Hierauf beginnt der Zug nach der Kirche. Auf dem Kirchhofe, welcher die Kirche umgibt, angekommen, gehen der Bräutigam, die Braut und die Freunde und Freundinnen auf die Gräber der verstorbenen nächsten Anverwandten und beten drei Vater unser und Ave für die Seelenruhe derselben. Es fließen dabei nicht selten aufrichtige Thränen kindlicher Liebe und Dankbarkeit. Man nennt dieses Betreten der Gräber ,Zu Gaste laden'. Danach ordnet sich der Zug wieder. Dieser schreitet zuerst um die Kirche und dann in dieselbe, wo die kirchliche Trauung vorgenommen wird."
Der Lehrer schließt das Buch.
- Vor hundertfünfzig Jahren war das hier noch Brauch. Und heute? Nichts mehr wie früher.
- Außer dem Essen.
Sagt Oma Ney. Und Opa Ney:
- Es ist schon wieder gedeckt: Kaffee und Kuchen.

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